Von ‚Vorgeschichte‘ zu ‚Deep History‘: Zur Kolonialität der Zeitrechnung

von Stefan Krause, 09.05.2017.

Zusammenfassung

Was meinen wir, wenn wir etwas als ‚prähistorisch‘ bezeichnen? Beziehen wir uns auf eine Epoche oder auf eine Zeit ohne Schrift? Wollen wir damit andeuten, dass Kulturen aus einer Zeit vor der Geschichtsschreibung minderwertig sind? Oder verweist der Begriff einfach auf eine frühe Stufe der menschlichen Entwicklung oder gar eine Zeit vor dem Erscheinen der ersten Menschen auf der Erde? In den vergangenen Jahrzehnten hat die Aufteilung der Vergangenheit in ‚Vorgeschichte‘ (Prähistorie) und ‚Geschichte‘ für hitzige akademische Debatten gesorgt. Einige Wissenschaftler kritisieren, dass der Begriff ‚prähistorisch‘ gewisse Kulturen als ‚Völker ohne Geschichte‘ stigmatisiert und fordern, dass das Konzept von Geschichte wegen des kolonialen Kontextes, in dem es entstand, überarbeitet werden müsse. Dieser Artikel gibt einen Überblick über den Ursprung und den Verlauf dieser Debatte. Weiterhin werden alternative Ansätze (z.B. ‚deep history‘) diskutiert und es wird erörtert, wie diese Alternativen unser Verständnis der Vergangenheit Amerikas und der Menschheit im Allgemeinen verbessern können.

Die Erforschung der menschlichen Vergangenheit ist ein multidisziplinäres Projekt. Räumliche und zeitliche Schwerpunkte hängen in den Wissenschaften von dem jeweiligen Forschungsgebiet ab. Biologische Anthropologen befassen sich beispielsweise mit der Biologie und Evolution des Menschen, deren Beginn auf eine Zeit von vor 7 Millionen Jahren datiert werden kann.[1]Die Archäologie untersucht materielle kulturelle Zeugnisse des Menschen, zu denen auch bis zu etwa 2,6 Millionen Jahre alte Artefakte zählen.[2] Historiker wiederrum studieren meist schriftliche Aufzeichnungen der menschlichen Vergangenheit, deren älteste Exemplare womöglich vor ungefähr 5.000 Jahren in Mesopotamien produziert wurden. Die verschiedenen Disziplinen unterscheiden sich demnach klar bezüglich des Zeitrahmens der menschlichen Vergangenheit, dem sie sich widmen. Die wahrscheinlich wichtigste und kontroverseste Unterscheidung ist jedoch die zwischen ‚Geschichte‘ und ‚Vorgeschichte‘. Traditionelle Definitionen lassen sich bis zu Hegels Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte aus den 1820ern zurückverfolgen, in denen er Indien, China und Afrika vom voranschreitenden Entfalten des menschlichen Geistes hin zur Freiheit ausschloss, weil er sie für statische Gesellschaften ohne erfassbare Vergangenheit befand. Für Hegel beinhaltet der Begriff ‚Geschichte‘ jene Perioden der menschlichen Vergangenheit, für die wir schriftliche Aufzeichnungen haben. Menschliche Gesellschaften ohne schriftliche Dokumente und nicht-textliche Artefakte gehören dagegen ins Reich des Prähistorischen. Die hegelianische Unterscheidung zwischen Geschichte und Nicht-Geschichte oder Vorgeschichte wurde in den letzten Jahrzehnten insbesondere von Wissenschaftlern aus der sog. Dritten Welt und der Postkolonialen Studien stark kritisiert.

 

Die Ursprünge des Begriffs ‚Vorgeschichte‘

Seit Hegels einflussreicher Unterteilung wurden unter dem Begriff ‚Vorgeschichte‘ sämtliche Aspekte der Vergangenheit zusammengefasst, die sich nur mittels archäologischer und materieller Funde rekonstruieren lassen. Der Bereich unterscheidet sich von der Disziplin ‚Geschichte‘ in entscheidenden methodologischen Punkten. Kurz gesagt: der Historiker liest, der Archäologe gräbt aus. Geschichte ist die ältere der beiden Disziplinen und existiert seit der Zeit von Herodot und Thucydides um 400 v. Chr. Das Konzept einer „prähistorischen Periode“ (période anti-historique) ist neueren Datums. Er wurde vom französischen Archäologen Paul Tournal im Jahr 1833 geprägt (Fagan 4). Einige Jahre später etablierte der schottisch-kanadische Gelehrte Daniel Wilson den Begriff ‚prehistoric‘ in seinem Werk The Archaeology and Prehistoric Annals of Scotland (1851) auch in der englischen Sprache.[3] Der Historiker Donald R. Kelley führt das wachsende Interesse an materiellen Zeugnissen prähistorischer Gesellschaften auf die Herausbildung neuer Wissenschaften wie etwa der Anthropologie und Archäologie zurück (22). Allerdings ist es ebenso möglich, dass diese neuen Wissenschaftsbereiche lediglich das wachsende Interesse an der fernen Vergangenheit gestillt haben – ein Interesse, das für gewöhnlich mit dem Aufstieg von Nationalstaaten in Verbindung gebracht wird.

Eine der umfangreichsten Studien darüber, wie sich moderne Gesellschaften eine ‚brauchbare‘ Vergangenheit zusammenstellen, ist David Lowenthals The Past is a Foreign Country (1985/2015). Lowenthal untersucht, wie eine ständig rekonstruierte und neuerfundene Vergangenheit sowohl Balsam als auch Bürde sein kann und wie kollektives Gedächtnis und Kulturerbe entscheidende Teile unserer Identität bilden.

Die zunehmende Faszination für die Frühgeschichte des Menschen wurde von zwei großen Entwicklungen angetrieben. Zum einen führte die Entdeckung und Erforschung der Tiefenzeit (der geologischen Zeit) durch die Geologen James Hutton und Charles Lyell zu einer Überarbeitung des lange Zeit gültigen Zeitverständnisses. Noch bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts veröffentlichten die meisten Gelehrten ihre Werke auf Grundlage eines von Bischof James Ussher im Jahre 1650 ausgerufenen Dogmas, demzufolge die Erde am Dienstag, dem 23. Oktober 4004 v. Chr. um genau 9.30 Uhr morgens erschaffen wurde. Ende des 18. Jahrhunderts untersuchte Hutton die Struktur des Bodens und von Gesteinen und schlussfolgerte, dass die Erde durch unglaublich langsame und ewig fortwährende Prozesse (Aktualismus/Uniformitätsprinzip) geformt wurde – eine Beobachtung, die Lyell später in seinem Opus Magnum Principles of Geology (1830-33) noch weiter ausführte. Ihre empirischen Befunde deuteten auf des gewaltige Alter der Erde hin und widersprachen Usshers Berechnungen. In seinem Buch Time’s Arrow, Time’s Cycle (1987) argumentiert Stephen J. Gould, dass die Werke Huttons und Lyells oft falsch dargestellt wurden. Gould zufolge bedienen sich die Texte der beiden Geologen sowohl eines linearen als auch eines zyklischen Zeitverständnisses und er zeigt auch, wie Kultur und Religion wissenschaftliche Entdeckung beeinflussen. Letztlich war es Charles Darwins Evolutionstheorie, die er in On the Origin of Species (1859) formulierte, die Wissenschaftler davon überzeugte, dass das Alter der Menschheit und anderer Arten das der biblischen Zeitrechnung bei weitem übertraf. Während Lyells und Darwins Entdeckungen eine beträchtliche religiöse Krise verursachten, nahm das wissenschaftliche Interesse an alten menschlichen Gesellschaften und deren Ursprüngen zu und brachte zum Ende der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts neue Wissenschaftsdisziplinen wie die Paläontologie und prähistorische Archäologie hervor.

Ein zweiter und manchmal damit verbundener Aspekt waren die politischen Interessen kolonialer Regierungen und Gesellschaften. Menschliche Kulturen als ‚prähistorisch‘ abzustempeln – oder sie schlicht als unveränderte urzeitliche Überbleibsel auszuweisen – half bei der Ausübung gewisser kolonialer Strategien und Praktiken.[4] In den Vereinigten Staaten von Amerika machte die Regierung ihre Ansprüche auf Land nach dem Louisiana Purchase von 1803 geltend. Jedoch lebten auf diesem Land schon Menschen: die indigenen Völker Amerikas. Für viele zukünftige Siedler aber war die Region westlich des Mississippis noch immer eine unerforschte Wildnis, und so wollten sie mehr über die Gefahren und Schätze des Westens erfahren. Fossilienjäger und Amateurarchäologen wie Albert C. Koch gruben im Westen Knochen urzeitlicher Wesen wie etwa des Mastodons aus und stellten sie in ihren Museen zur Schau, was bei den Besuchern Fantasien eines von wilden Stämmen und vorzeitlichen „Riesenthieren“ bewohnten Westens weckte. Andere Gelehrte studierten die Erdhügel (‚mounds‘) im Tal des Mississippi und anderswo, geleitet von der Annahme, dass diese Hügel von längst verschwundenen Hochkulturen erbaut worden waren. Frühe Archäologen akzeptierten die kulturelle Zusammengehörigkeit von modernen indigenen Stämmen und den legendären ‚Moundbuilders‘ erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Davor wurden die indigenen Völker systematisch als primitive Menschen dargestellt, die zwar später auf dem amerikanischen Kontinent erschienen, jedoch auf einer früheren Stufe der menschlichen Entwicklung stehen geblieben waren. Diese Darstellung der indigenen Völker als unzivilisierte und kulturell ‚prähistorische‘ Menschen half bei der Rechtfertigung der Vertreibung und territorialen Enteignung indigener Stämme. Wer nicht die Leiter der Zivilisation hinaufgeklettert war (wie etwa von den frühen Anthropologen Edward B. Tylor und Lewis H. Morgan postuliert), wurde einer niedrigeren Entwicklungsstufe der Menschheit zugeordnet und als für die Herausforderungen des modernen Zeitalters untauglich befunden. Zu dieser Zeit war die Ansicht, dass ‚zivilisierte‘ Menschen ‚kulturlose‘ Bevölkerungen zu ersetzen haben, eine weithin akzeptierte Geschichtstheorie. Demnach kann die Erschließung des amerikanischen Westens nicht nur als Enteignung der indigenen Bevölkerung gesehen werden, sondern auch als ideologische Transformation des Westens von einem Land der ‚Vorgeschichte‘ in eins der ‚Geschichte‘.

 

Von den Hütern der Zeit und den Schöpfern der (Vor)Geschichte

WissenschaftlerInnen wie die Anthropologin Alice Beck Kehoe diskutieren den Begriff ‚Vorgeschichte‘ („prehistory“) im Kontext der Geschichte der amerikanischen Archäologie. Kehoe zufolge war die amerikanische Archäologie von ihren Anfängen bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts als „Beruf sichtbar fast ausschließlich weiß, männlich, protestantisch und in Amerika geboren“ (Introduction, xiv). Sowohl das Konzept als auch das Studium der Vorgeschichte wurden so politisch und ideologisch von einer bestimmten Gruppe von Menschen gesteuert.[5]Es scheint also, als hätte die Idee der ‚Vorgeschichte‘ Menschengruppen sowohl auf zeitlicher als auch auf wissenschaftlicher Ebene ausgeschlossen. Der Anthropologe Johannes Fabian formulierte ähnliche Gedanken für die Geschichte der Anthropologie. In Time and the Other (1983) untersucht Fabian, wie Vertreter des Kulturevolutionismus und Sozialdarwinisums wie etwa E.B. Tylor, L.H. Morgan und Herbert Spencer das Wissen um die geologische Zeit in die anthropologischen Diskurse ihrer Epoche integrierten, um so ihre Thesen zu stützen, die Fabian als „intellektuell bedauernswert rückschrittlich und politisch eher reaktionär“ (16) einstuft. Fabian zeigt, wie dieser Diskurs in einem vermeintlich wissenschaftsbasierten Narrativ der menschlichen Vergangenheit resultierte, welches verwendet wurde, um gegenwärtige Gesellschaften unterschiedlichen Evolutionsschritten zuzuordnen. Andere argumentieren in ähnlicher Weise in Bezug auf die Geschichtswissenschaft. In seinem Buch Europe and the People Without History (1982) konzentriert sich Anthropologe Eric Wolf auf den räumlichen Fokus der Geschichte und kritisiert das eurozentrische Konzept der Geschichte als exklusiv und unzureichend. Stattdessen fordert er eine ‚Geschichte‘, die sowohl nicht-westliche Akteure als auch „‘Primitive‘, Bauern, Arbeiter, Immigranten und bedrängte Minderheiten“ (Preface 1982, x) mit einschließt. Mit den Kritiken durch Autoren wie Kehoe und Wolf wurde der Ruf nach einem inklusiveren Zugang zu den Themen Zeit und Geschichte zunehmend lauter.

Abbildung 1: Die geologische Zeitspirale ist eine von vielen möglichen Darstellungen der Vergangenheit der Erde. Quelle: United States Geological Survey. 2008. Wikimedia Commons. Wikimedia Foundation. Web. 19.01.2017. <https://en.wikipedia.org/wiki/Geologic_time_scale#/media/File: Geological_time_spiral.png>

Die Tiefe der Zeit und der menschlichen Vergangenheit

Die unterschiedlichen Zeitrahmen, innerhalb derer Wissenschaftler die Entwicklung des Menschen studieren, konzentrieren sich stets auf ein bestimmtes Gebiet und vernachlässigen dabei andere. Obwohl die Spezialisierung notwendig ist, scheint ein stärker zusammenhängendes Narrativ der Vergangenheit des Menschen möglich. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts haben Forscher unter dem Einfluss postkolonialer Ansätze begonnen die Struktur der menschlichen Vergangenheit zu überarbeiten. HistorikerInnen wie Lynn Hunt und Daniel Lord Smail schlugen neue Wege zur Strukturierung und Messung von Geschichte vor.

In Measuring Time, Making History (2008) schreibt Hunt darüber, wie westliche Datierungssysteme und Konzepte wie ‚Moderne‘ unser Verständnis von Geschichte geformt und bestimmt haben. In einer kritischen Reflexion über die Grenzen und Vorurteile von Geschichte fordert sie einen nicht-teleologischen, säkularen und tiefenzeitlichen Zugang zur Vergangenheit (108). Hunt möchte Geschichte zudem von ihren zeitlichen und räumlichen Begrenzungen befreien, die zur Entstehung von Kategorien wie ‚altertümlich‘ („ancient“), ‚mittelalterlich‘ („medieval“) und ‚modern‘ beigetragen haben und nur westliche Narrative der Vergangenheit abdecken. In diesem Zusammenhang verweist sie auf Wissenschaftler wie Sanjay Subrahmanyam und Smail, die ein Konzept von Geschichte unterstützen, bei dem paläolithische Menschen berücksichtigt werden und antike und nicht-europäische Kulturen nicht als ‚prähistorisch‘ abgehandelt werden.

Smail ist einer der prominentesten Advokaten der Tiefenzeit im Bereich der Geschichte. In ihrem Buch Deep History (2011) versuchen Smail, Anthropologe Andrew Shryock und andere die Vergangenheit der Menschheit mit deren Naturgeschichte (Evolution des Menschen) zu verbinden. Sie erkennen an, dass dank „Archäologen und Paläontologen die Vorgeschichte heute sorgfältig abgebildet, akribisch datiert und kreativ analysiert ist“ (Preface, x). In Anbetracht dieses verfügbaren Wissens schlagen Shryock und Smail vor, beim Studium der menschlichen Geschichte nicht länger Kulturen und Epochen aufgrund ihrer unterschiedlichen Geschichtlichkeit auszuschließen. Ihr Ziel ist es, die Skala der Erzählung des Menschen dadurch zu erweitern, dass das Schreiben dieser Erzählung in einen interdisziplinären Prozess umgewandelt wird.[6]Auch wenn ihr Konzept einer ‚Tiefengeschichte‘ („deep history“) die kontroverse Dichotomie von Geschichte und Vorgeschichte überwunden hat, sehen sich Smail und seine Kollegen eventuell mit der Kritik konfrontiert, etwas zu ehrgeizig bezüglich ihrer Ziele zu sein und einige nicht-westliche Zugänge zur Vergangenheit zu vernachlässigen (z.B. mündliche Überlieferungen). Diese Lücke wird in dem Sammelband The Death of Prehistory (2013), herausgegeben von Peter Schmidt und Stephen Mrozowski, geschlossen. Die beiden sprechen von einer „Tyrannei der Vorgeschichte“ und heben nicht-westliche Ansätze zur Aufzeichnung von Geschichte und das Bewahren eines geschichtlichen Gewissens hervor.

Eine der jüngsten Entwicklungen, ‚Big History‘, erweitert die zeitliche Spanne noch weiter und deckt den Zeitraum vom Big Bang bis hin zur Gegenwart ab.[7] Als solches kombiniert ‘Big History’ Kosmologie, Archäologie, Geschichte, Astronomie und weitere Disziplinen, erforscht damit die letzten Tiefen der Vergangenheit und zeigt dabei die vergleichbar geringe Relevanz der menschlichen Existenz.

 

Tiefe und Breite der Geschichte Amerikas

Die Debatten rund um den Umfang und die Rolle von Geschichte sind für unser Projekt wichtige Themen. Das Projekt konzentriert sich auf die Konstruktion Amerikas früher Vergangenheit; ein theoretischer Rahmen, der die Mittel und Struktur für diese Untersuchung liefert, ist damit essentiell für das Vorhaben. Es ist unser Ziel zu erforschen, wie die Vergangenheit Amerikas studiert wurde, wer die Akteure in den wissenschaftlichen Diskursen waren (siehe „Akteure“) und welche Wissensformen über die amerikanische Vergangenheit existieren. Bei diesem Vorhaben folgen wie der theoretischen Grundlagenarbeit durch Wolf, Gould, Fabian, Hunt und Smail und versuchen, die zahlreichen Diskurse rund um Amerikas Frühgeschichte zu analysieren und die Kategorien wie ‚altertümlich‘, ‚prähistorisch‘, ‚modern‘ und ‚geschichtlich‘ zu hinterfragen. Wir glauben, dass durch ein Vertiefen und Erweitern der geschichtlichen Skala ein umfassenderes Verständnis der Vergangenheit und damit eine bessere Grundlage zur Schaffung einer gemeinsamen Zukunft möglich sind.

Vieler der Artikel auf dieser Webseite konzentrieren sich auf spezielle Fälle, die die Möglichkeiten eines zeitlich, räumlich und kulturell erweiterten Rahmens der Vergangenheit darstellen. Geschichten wie “Chachapoyas”, “Pleistocene Overkill” oder die der Debatte über den “Kennewick Man” zeigen, wie westliche Konstruktionen der Vergangenheit mitunter verzerrte Darstellungen von Amerikas früher Geschichte abbilden und wie diese Verzerrungen bis heute politische Diskussionen beeinflussen (z.B. über Land-, Jagd-, und Fischereirechte, etc.). Allen menschlichen Kulturen den Status der ‚Geschichtlichkeit‘ („Historicality“)[8]zu gewähren – unabhängig davon, ob sie schriftliche, mündliche, oder andere Kommunikationsmedien verwenden – kann dabei helfen, einen Raum zu schaffen, in dem Wissen über die Vergangenheit zu einem gemeinschaftlichen und kulturübergreifenden Projekt wird.

 

LITERATURNACHWEIS

[1] Wenn wir Sahelanthropus tchadensis als einen der frühesten homininen Vertreter akzeptieren, lässt sich die Vergangenheit dieses Taxons gegenwärtig auf bis zu ca. 7 Millionen zurückdatieren. Alternativ können hier auch Orrorin tugenensis (ca. 6 Mya) oder Ardipithecus spp. (ca. 5,5-4,5 Mya) als die ältesten bekannten Homininen betrachtet werden. 

[2] Neue Funde von Steinwerkzeugen im kenianischen Lomekwi wurden sogar auf ein Alter von 3,3 Millionen Jahren datiert.

[3] Alice Beck Kehoe diskutiert Daniel Wilsons Rolle bei der Konstruktion der Vorgeschichte in ihrem Buch The Land of Prehistory (1998).

[4] In The Land of Prehistory diskutiert Kehoe wie die amerikanische Archäologie “politisch aufgeladen war und die Vorherrschaft über Nordamerika durch von der britischen Bourgeoise inspirierte Kapitalisten legitimierte” (Introduction, xi). Alle Übersetzungen von SK.

[5] Es ist wichtig hervorzuheben, dass sich dies seit Ende des 20. Jahrhunderts massiv geändert hat.

[6] Ihr Autorenteam umfasst Historiker, Archäologen, Kulturelle Anthropologen, einen Linguisten, einen Primatologen und einen Genetiker (Smail & Shryock, 18).

[7] Für eine Einführung zur ‘Big History’ siehe das Buch des Historikers David Christian Maps of Time (2005).

[8] Hunt definiert “historicality“ als “die Definition dessen, das das Historische konstituiert” (124). Postkoloniale Texte wie Dipesh Chakrabartys Provincializing Europe (2000), aber auch Texte von Historikern wie etwa Jack Goodys The Theft of History (2006), fordern, dass die Geschichtlichkeit auf Kulturen außerhalb der des abendländischen Westens ausgeweitet wird. Siehe auch Gesa Mackenthun, “Night of First Ages.”

 

ZITIERTE LITERATUR

Chakrabarty, Dipesh. Provincializing Europe. Postcolonial Thought and Historical Difference. Princeton: Princeton University Press, 2. Ed. 2008 (2000).

Christian, David. Maps of Time: An Introduction to Big History. Berkeley: University of California Press, 2004.

Fabian, Johannes. Time and the Other. How Anthropology Makes its Object. New York: Columbia University Press, 1983/2002.

Fagan, Brian M. People of the Earth: An Introduction to World Prehistory. 13. Ed. Upper Saddle River, NJ: Prentice Hall/Pearson, 2010.

Goody, Jack. The Theft of History. Cambridge: Cambridge University Press, 2006.

Gould, Stephen Jay. Time’s Arrow Time’s Cycle. Myth and Metaphor in the Discovery of Geological Time. Cambridge: Harvard University Press, 1987.

Hunt, Lynn. Measuring Time, Making History. Budapest, New York: Central European University Press, 2008.

Kehoe, Alice B. The Land of Prehistory: A Critical History of American Archaeology. New York: Routledge, 1998.

Lowenthal, David. The Past is a Foreign Country. Cambridge: Cambridge University Press, 1985. New edition 2015.

Mackenthun, Gesa. “Night of First Ages: Deep Time and the Colonial Denial of Temporal Coevalness.” Crossroads in American Studies: Transnational and Biocultural Encounters. Hrsg. Frederike Offizier, Marc Priewe, Ariane Schröder. Heidelberg: Winter, 2016. 177-213.

Schmidt, Peter R., and Stephen A. Mrozowski, Hrsg. The Death of Prehistory. Oxford University Press, 2013.

Shryock, Andrew & Daniel L. Smail. Deep History: The Architecture of Past and Present. Berkeley: University of California Press, 2011.

Wolf, Eric R. Europe and the People without History. Berkeley: University of California Press, 1982.