„Die Kolonialität von Wissen“

von Gesa Mackenthun, 10.04.2016.

Zusammenfassung

„Die Kolonialität von Wissen“ ist ein theoretisches Konzept des lateinamerikanischen Intellektuellen Aníbal Quijano, das in neuere dekoloniale Denkansätze in Nordamerika integriert wurde. Es beruht auf der Erkenntnis, dass koloniale Gesellschaften indigene Formen von Wissen systematisch aus ihren Archiven verbannt haben und die Medien, mittels derer dieses Wissen transportiert wurde (und wird), nicht anerkennen. Unser Projekt befasst sich insbesondere mit der Kolonialität archäologischen Wissens über die frühe menschliche Präsenz in Nordamerika und mit der Art und Weise, wie die Wissensbildung in raumbezogenen Wissenschaften (oft unabsichtlich) durch die kolonialen Beziehungen zwischen der angelsächsischen Mehrheit und den indigenen Völkern beeinflusst wurde. Ziel des dekolonialen Ansatzes ist es, neue Belege aus verschiedenen Feldern (z.B. Visual Studies, Material Studies und Oral Studies) zusammenzufügen um die einst durch koloniale Dominanz verborgenen Epistemologien wiederzubeleben. Eines dieser Wissensgebiete ist der wachsende Bereich des Traditional Ecological Knowledge (TEK), der auf traditionellem indigenen Wissen über den nachhaltigen Umgang mit lokalen Ressourcen beruht.

Ein zentrales Interesse des Projekts „Konstruktionen der Amerikanischen Frühgeschichte“ gilt der Produktion von Wissen in Situationen kolonialen Kontakts. Die spezifische Forschungsfrage ist, wie die ferne präkoloniale Vergangenheit Amerikas im Verlauf der Geschichte und unter Bedingungen fortwährender Beziehungen zwischen Kolonialgesellschaften (v.a. der anglo-amerikanischen) und indigenen Völkern konstruiert und erfunden wurde. Von den frühesten Kontakten abgesehen waren koloniale Begegnungen geprägt von „radikal asymmetrischen Machtbeziehungen“, wie Mary Louise Pratt betont.[1] Politische Hegemonie wurde durch die direkte Kontrolle von Territorien, menschlichen Körpern und den sozialen Interaktionen zwischen Menschen erreicht, aber zu einem großen Teil auch durch die Kontrolle von Gedanken. Die ersten modernen Kolonisatoren waren sich dieses Sachverhaltes bewusst und stellten sicher, dass traditionelle indigene Wissenssysteme zerstört, denunziert und unterbrochen wurden. Dieser Prozess wird etwa durch Diego Muñoz Camargo – einem Mestizen erster Generation – in seiner Descripción de Tlaxcala (1585) anhand der Zerstörung mexikanischer Codices durch franziskanische Mönche illustriert.

Abb. 1: Zerstörung mexikanischer Codices. Diego Muñoz Camargo, “Descripción de la ciudad y provincia de Tlaxcala” (c. 1585). Sp Coll MS Hunter 242 (U.3.15) folio 242r (Glasgow University). Quelle: Andreas Beer/Gesa Mackenthun, Hrsg. Fugitive Knowledge 14.

Das Bild kann als Veranschaulichung des Kampfes um epistemische Vorherrschaft gesehen werden – mit Gottheiten und einstigen Herrschern, die durch die Brandfackeln der Ordensbrüder erzürnt und womöglich von jeglicher textueller Kontrolle befreit werden. Es scheint, als würden sie in den Flammen des auto-da-fé zum Leben erweckt, ähnlich wie die Dämonen, die der Zauberlehrling rief. Camargos Zeichnung erinnert uns auch an die seltsame Tendenz der Kolonialmächte, die Spuren ihrer Verwüstungen zu dokumentieren, wodurch sie Beweise für die vorherige Existenz von jenem Wissen hinterließen, das sie doch um jeden Preis unterdrücken wollten. Von einem diachronen Standpunkt sind solche Beweise – also derartiges Wissen über die Zerstörung von Wissen – ein guter Ausgangspunkt für eine kritische und erneute Prüfung bestehender Geschichtsschreibungen, Mythen und Narrative.

Das Bild zeigt, dass sich die Mönche der Tatsache sehr bewusst waren, dass es sich bei den Codices um Texte handelte. Dies widerspricht späteren Behauptungen, dass textuelle Medien den indigenen Völkern Amerikas komplett unbekannt gewesen seien und von diesen nicht produziert wurden. Später wurde dieser Streitpunkt unter dem Einfluss von Hegels Nexus von Textualität und Historizität noch zu der These ausgeweitet, dass die indigenen Bewohner Amerikas und andere ‚primitive‘ Völker keine Geschichte hätten, da sie keine Texte hätten. Bis vor kurzem befand sich die westliche Wissenschaft in einer nahezu sklavischen Abhängigkeit von der Existenz (gedruckter) Texte als einzig wahrhaft zuverlässige Quellen. Doch während visuelle Medien, materielle Artefakte, architektonische Formen, archäologische Funde und räumliche Strukturen in den historischen Wissenschaften zunehmend an Ansehen gewinnen, kann selbiges nicht für indigene mündliche Überlieferungen gesagt werden. Diese Quellen beginnen erst seit kurzem das wissenschaftliche Interesse zu wecken, das sie im historischen, aber auch im zumindest ebenso wichtigen rechtlichen Bereich (siehe Cruikshank; Finnegan; Brown; Echo-Hawk; Southwest Aboriginal Land and Sea Council) verdienen.

Die Zerstörung nicht-europäischer Archive und die Zurückweisung nicht-europäischer Formen der Kommunikation basieren oft auf Behauptungen, die diese Wissensformen als primitiv, naiv, irrational, obskur und inkohärent darstellten – kurz gesagt, als eine Sammlung von Mythen und Märchenerzählungen. Derartige koloniale Vorurteile müssen auseinandergenommen und durch eine sorgfältige erneute Prüfung vorhandener Daten (von archäologischen Fundstellen bis zu mündlichen Überlieferungen) zurückgewiesen werden. Beschreibungen fabelhafter Orte, die als unglaubwürdig abgetan wurden, könnten nach einer solchen Überprüfung vielleicht als weniger unzuverlässig gelten, wenn sie durch archäologische Funde bestätigt werden (ein gutes Beispiel sind die grönländischen Sagas über das mythische Vinland, deren historischer Wahrheitsgehalt erst durch die Entdeckung der Grundmauern der Wikingersiedlungen in l’Anse aux Meadows belegt wurde; siehe auch  Neil Safiers Essay über frühe koloniale Berichte von frühgeschichtlichen Siedlungen im Amazonasbecken, deren Existenz viele Jahrhunderte lange angezweifelt wurde, aber nun mittels archäologischer Beweise bestätigt wurde).

Die asymmetrische Bewahrung und Weitergabe von Wissen in kulturellen Kontaktzonen ergeben sich demnach aus der Stummschaltung, der Herabsetzung und der Dämonisierung indigener Wissensformen. Diese Methoden finden sich jedoch nicht nur in Situationen kolonialen Kontaktes. Auch die Geschichte Europas verfügt über eine Fülle an Beispielen für die Disartikulation bestimmter Wissensformen. Die ‚Geschichte von Unten‘ befasst sich mit der Sammlung von ‚unterdrücktem Wissen‘ („subjugated knowledges“), wie Michel Foucault es nannte.[2] Doch genauso wie indigenes Wissen durch koloniale Wissenschaft ausgelöscht wurde, kann auch das „savoir des gens“ nicht als einfach verfügbares und durchläufig kontra-hegemoniales Archiv verstanden werden, das seiner Entdeckung harrt. Vielmehr ist es für uns eher in einer oft fragmentarischen und schwer fassbaren Form verfügbar, die unzählige Versuche intelligenten Lückenfüllens erfordert (siehe Beer/Mackenthun).

In seinem Buch The Darker Side of Modernity (2011) hat Walter Mignolo den Begriff ‚Kolonialität von Wissen‘ (“coloniality of knowledge“) vorgeschlagen, um diese Phänomene zu beschreiben. Bezugnehmend auf Aníbal Quijanos Essay “Colonialidad del poder, cultura y conocimiento in America Latina” (1997) und spätere Texte, in denen Quijano das Konzept weiterentwickelt, verwendet Mignolo (und andere frühere Mitglieder der Latin American Subaltern Studies Group) den Begriff ‚Kolonialität‘ um unvermeidbare strukturelle Beziehung zwischen der Produktion, Verbreitung und Reproduktion von Wissen und dem kolonialen Kontext zu beschreiben. Die Kolonialität von Wissen verdrängt und verschleiert häufig auf sehr subtile Weise alternative Wissensformen (Episteme). Um der Dominanz der kolonialen Episteme entgegenzutreten, werben die dekolonialen Kritiker für eine ‚dekoloniale Option‘ („decolonial option“)[3] – Versuche zur Aufdeckung des verborgenen Wissens kolonisierter Völker, das von den kolonialen Wissenschaften systematisch ausgelöscht wurde. Für Gelehrte innerhalb der westlichen Wissenschaften bedeutet dieses Projekt – das vergleichbar mit Chakrabartys Projekt zur „Provinzialisierung“ westlichen Wissens ist – ein enormes Maß an Selbstkritik, weil es von ihnen fordert, jene Wissenssysteme zu ‚dekolonialisieren‘, innerhalb derer sie selbst arbeiten, also liebgewonnene Annahmen in Frage zu stellen. Dazu zählen der Wissenskanon, der von ihrem jeweiligen Fach produziert wurde, aber auch die Theorien und Methoden wissenschaftlicher Wissensproduktion, die sie gelernt haben anzuwenden.

Walter Mignolo und andere Anhänger der „decolonial option“ sind äußert skeptisch gegenüber kolonialen Theorien und Denkern (z.B. Race Theory, hierarchische Kultur- und Zivilistionstheorien) und versuchen, diese durch vermeintlich indigene Konzepte zu ersetzen. Diese Konzepte können, nach Ansicht Mignolos und anderer, äußerst nützlich dabei sein, das moderne koloniale Weltgefüge aus den Angeln zu heben. Oft stammen diese Ansätze aus Lateinamerika, aber Mignolo betont, dass auch andere Regionen der Welt (z.B. China und Indien) alternative epistemische Konzepte aufweisen.[4] Abgesehen davon, dass es in unserer Zeit der Globalisierung fragwürdig ist, ob ein komplettes Lossagen von der kolonialen Wissenswelt möglich ist, wurden dekoloniale Intellektuelle von Forschern postkolonialer und feministischer Studien dafür kritisiert, sich nicht ausreichend für nicht-männliche und nicht-akademische Wissensformen zu öffnen (siehe Rivera Cusicanqui). Bemühungen. das beschädigte transkulturelle Archiv zu reparieren, kann nur dann erfolgreich sein, wenn sie die Stärken diverser epistemischer Gemeinschaften und Disziplinen einschließen, tatsächlich versuchen durch das westliche Bildungssystem ausgehobene Gräben zu überbrücken und sich einem ganzheitlicheren Ansatz der Wissensaneignung zu nähern. Bildung, ob „ästhetisch“ oder eher allgemein, ist das Mittel um dies zu erreichen (Spivak). Das Projekt einer interdisziplinären ‚Dekolonisierung‘ stellt eine enorme Herausforderung für Wissenschaftler dar, die über Jahre und Jahrzehnte in ihren Fachgebieten und innerhalb von Institutionen ausgebildet wurden, die darauf basieren die Grenzen zwischen diesen Fachgebieten aufrechtzuerhalten.

Die kritische Untersuchung und Entmystifizierung kolonialen Wissens geht Hand in Hand mit Initiativen zur Wiederbelebung indigenen Wissens, wie beispielsweise im wachsenden Feld des Traditional Ecological Knowledge (TEK). Die Existenz dieses alternativen Wissens im Bereich des ökologischen Managements ist der Bewahrung durch indigene Wissensträger zu verdanken. Durch die permanente Anpassung an neue Umweltsituationen ist traditionelles ökologisches Wissen eine wertvolle Ressource im Kampf gegen die fortdauernde Zerstörung kostbarer Habitate und der Umwelt im Allgemeinen (siehe Menzies; Peat). 

 

Übersetzung ins Deutsche: Stefan Krause

 

LITERATURNACHWEISE

[1] Pratt, Imperial Eyes 7.

[2] Michel Foucault, “Two Lectures” 81, 83. Siehe Hock/Mackenthun, Entangled Knowledge 8-16; für “history from below,” siehe Sharpe.

[3] Mignolo, Darker Side xv-xvi et passim.

[4] Mignolo, Darker Side 321.

 

ZITIERTE LITERATUR

Beer, Andreas, and Gesa Mackenthun, eds. Fugitive Knowledge. The Preservation and Loss of Knowledge in Cultural Contact Zones. Münster: Waxmann, 2014.

Brown, Brian Edward. Religion, Law, and the Land. Native Americans and the Judicial Interpretation of Sacred Land. Westport: Greenwood Press, 1999.

Chakrabarty, Dipesh. Provincializing Europe: Postcolonial Thought and Historical Difference. 2000. Princeton; Oxford: Princeton University Press, 2008.

Cruikshank, Julie. Do Glaciers Listen? Local Knowledge, Colonial Encounters, and Social Imagination. Vancouver: British Columbia University Press, 2005.

Echo-Hawk, Walter R. In the Courts of the Conqueror. Golden: Fulcrum, 2010.

Finnegan, Ruth. Oral Tradition and the Verbal Arts. London: Routledge, 1991.

Foucault, Michel. “Two Lectures.” Power/Knowledge. Selected Interviews and Other Writings 1972-1977. Ed. Colin Gordon. London: Harvester Wheatsheaf, 1980. 78-108.

Hock, Klaus, and Gesa Mackenthun, eds. Entangled Knowledge. Scientific Discourse and Cultural Difference. Münster: Waxmann, 2012.

Menzies, Charles R., ed. Traditional Ecological Knowledge and Natural Resource Management. Lincoln: University of Nebraska Press, 2006.

Mignolo, Walter. Local Histories/Global Designs: Coloniality, Subaltern Knowledges, and Border Thinking. Princeton: Princeton University Press, 2012.

---. The Darker Side of Western Modernity: Global Futures, Decolonial Options. Durham: Duke University Press, 2011.

Peat, F. David. The Pari Dialogues. Essays in Indigenous Knowledge and Western Science. Pari (Italien): Pari Publishing, 2013.

Pratt, Mary Louise. Imperial Eyes. Travel and Transculturation. London/New York: Routledge, 1992.

Quijano, Aníbal. “Colonialidad del poder, cultura y conocimiento in America Latina.” Anuario Mariateguiano 9 (1997): 113-21.

Rivera Cusicanqui, Silvia. Ch’ixinakax Utxiwa: Una Reflexión Sobre Prácticas Y Discursos Descolonizadores. Buenos Aires: Tinta Limón Ediciones, 2010.

Safier, Neil. “Fugitive El Dorado: The Early History of an Amazonian Myth.”Fugitive Knowledge. The Preservation and Loss of Knowledge in Cultural Contact Zones. Ed. Andreas Beer and Gesa Mackenthun.Münster: Waxmann, 2014. 51-62.

Sharpe, Jim. “History From Below.” New Perspectives on Historical Writing. Ed. Peter Burke. Cambridge: Polity Press, 1991. 24-41.

Southwest Aboriginal Land and Sea Council. “‘It’s Still in My Heart, This is My Country’. The Single Noongar Claim History.” Crawley, Australien. UWA Publishing, 2009.

Spivak, Gayatri Chakravorty. An Aesthetic Education in the Era of Globalization. Cambridge: Harvard University Press, 2012.