Kennewick-Mann – der Ötzi Nordamerikas

von Stefan Krause, 15.01.2016.

Zusammenfassung

Zwischen Archäologen und Indianern in den USA tobt seit 20 Jahren ein erbitterter Kampf um den Besitz und die Bedeutung eines uralten Skeletts. Im Jahr 1996 fanden zwei Studenten in der Nähe von Kennewick, im US-Bundesstaat Washington, die Überreste eines menschlichen Skeletts. Sie konnten nicht wissen, dass diese Knochen einem Mann gehörten, der vor 8.400 bis 8.690 Jahren in dieser Gegend gestorben war. Der Fund war eine Sensation und die Überreste waren sogar noch deutlich älter als die des berühmten ‚Ötzi‘ in Europa.  Mitglieder der indigenen Bevölkerung waren sich sicher, dass dieser Mann einer ihrer Vorfahren war und forderten die Herausgabe der Knochen von „The Ancient One“, wie sie ihn nannten, um sie würdig zu begraben. Archäologen beanspruchten jedoch den Fund für die Wissenschaft und tauften das Skelett in Anlehnung an den Fundort ‚Kennewick-Mann.‘ Wer war dieser Mann? Wo kam er her? Und wem gehört sein Skelett?

Die Geschichte seiner Entdeckung

Am 28. Juli 1996 hielten sich zwei Studenten am Ufer des Columbia River auf, um ein Gleitbootrennen in Kennewick, im Bundesstaat Washington, zu sehen.

Abbildung 1: Karte der Fundgegend in Washington State.

Bei ihrer Wanderung durch das flache Wasser stießen sie auf einen der bedeutendsten Funde in der Geschichte der amerikanischen Archäologie – den Schädel des Kennewick-Manns.

Am Abend desselben Tages kontaktierte der örtliche Rechtsmediziner Floyd Johnson den Archäologen und Paläontologen James C. Chatters, mit dem er weitere Knochen an der Fundstelle bergen konnte. Nach seiner ersten Einschätzung war Chatters erstaunt über den Zustand und die Vollständigkeit des Skeletts, sowie – wie er damals meinte – das Vorhandensein einer eher kaukasischen Schädelform und das Fehlen von eindeutig indianischen morphologischen Merkmalen.[1] Der außergewöhnlich gute Zustand der Überreste ermöglichte es Wissenschaftlern, Erkenntnisse über den spektakulären Fund zu gewinnen. Genauere Betrachtungen der Form und Struktur der Knochen ließen weitere Aussagen über das Alter zum Zeitpunkt des Todes, Geschlecht, Ernährung und eine eventuelle ethnische Zugehörigkeit zu.

 

Wer war der Kennewick-Mann?

Bei vielen der frühen Untersuchungen zu Kennewick-Manns Identität konzentriert man sich auf den Schädel. Merkmale des Schädels ähneln sich gewöhnlich unter Menschen derselben oder verwandten Populationen. Doch Vorsicht! Es gilt hier zu berücksichtigen, dass auch innerhalb dieser Populationen ein gewisses Spektrum an Merkmalen existiert. Es ist daher schwierig und bisweilen kritisch, einen einzigen Schädel einer bestimmten Menschengruppe zuzuordnen. Bezogen auf den Kennewick-Mann beobachteten Forscher ein schmales Gesicht mit einem hervorstehenden Kinn sowie einer langen und breiten Nase und interpretierten diese Merkmale als Hinweise auf einen kaukasischen Typ.[2] Spätere Studien und Vermessungen des Schädels (Kraniometrie) deuteten eher eine Verbindung zu den Moriori aus Polynesien oder den Vorfahren der nordjapanischen Ainu an.[3]

Abbildung 2

Während dieser kraniometrischen Untersuchungen rekonstruierten einige Wissenschaftler zudem das Gesicht des Kennewick-Manns. Die auf diese Weise entstandenen Modellierungen des Gesichts reichen von Chatters’ und McClellands[4] berühmter Nachbildung, die eine große mit Ähnlichkeit mit dem Schauspieler Patrick Stewart (Star Trek: The Next Generation) aufweist, bis hin zu neueren Modellen wie etwa jenem von Archäologe Douglas W. Owsley und seinem Team.[5]

Abbildung 3
Abbildung 4

Während des genaueren Studiums der Knochen gelang es Chatters und seinen Kollegen weiterhin, Daten und Details über das Leben des Kennewick-Manns zu rekonstruieren. Unter anderem stellten sie fest, dass die Überreste einem männlichen Menschen im Alter zwischen 40-55 Jahren gehören, der ungefähr 170-176cm groß war.[6] Die Knochen verrieten außerdem, dass diese Person an Arthritis erkrankt war und im Laufe des Lebens schwere Verletzungen der Rippen sowie eine durch einen Schlag verursachte Kopfverletzung erlitt.[7] Die aufregendste Entdeckung war jedoch ein kleines steinernes Objekt, das man eingebettet im Hüftknochen fand. Chatters identifizierte den Gegenstand als “gezackte Projektilspitze der Altkordillerenkultur, typisch für Assemblagen des Columbia Plateau aus einem Zeitraum von 8.500-4.500 Jahren vor der Gegenwart“ (Übersetzung SK).[8] Das Datieren von Projektilspitzen, die zusammen mit menschlichen Überresten gefunden wurden, ist eine grundlegende Methode der Archäologie.

Zur Absicherung dieser Vermutung und um einen genaueren Wert zu erhalten, führten verschiedene Forscher Radiokarbondatierungen und DNA-Analysen durch. Eine der ersten Radiokarbondatierungen ordnete den Fund in eine Zeit von 8.340-9.200 kalibrierten Jahren vor der Gegenwart ein.[9] Nur kurze Zeit nach der Veröffentlichung dieser Daten stieg das Interesse am Kennewick-Mann sprunghaft an. Wissenschaftler erhofften sich, dass der Fund preisgeben könnte, wessen Vorfahren diese Region Nordamerikas vor mehr als 8000 Jahren besiedelten. Mehrere Stämme der indigenen Bevölkerung sahen jedoch die angemessene Behandlung und Beerdigung eines ihrer Vorfahren in Gefahr. Es dauerte nicht lange und der Walla Walla District Corps of Engineers (die Abteilung der US Army, die für das Land zuständig ist, auf dem die Knochen gefunden wurden) untersagte weitere wissenschaftliche Untersuchungen mit Verweis auf den Native American Graves Protection and Repatriation Act (NAGPRA, 1990), der eine Rückgabe und Wiederbestattung eindeutig der indigenen Bevölkerung zuzuordnender Funde verlangt. Vielmehr sollten die Knochen an eine Gemeinschaft indigener Stämme aus dem Einzugsgebiet des Columbia River – darunter die Stämme der Colville, Wanapum, Umatilla, Nez Perce und Yakama – zurückgegeben werden.[10] Einige Wissenschaftler akzeptierten diese Entscheidung jedoch nicht und so begann ein langer Kampf um die Knochen des “Ancient One.”

 

Der Kampf um die Knochen des Ancient One

Mehrere Gruppen beanspruchten den Fund für sich. Unter diesen Kandidaten fanden sich auch Organisationen wie die in den USA ansässige heidnische Glaubensgemeinschaft der Asatru Folk Assembly. Diverse Stämme der indigenen Bevölkerung bestanden darauf, dass der “Ancient One” ihr Vorfahr war und somit eine Rückgabe und Wiederbestattung gemäß des NAGPRA folgen muss. Mitglieder des Stammes der Umatilla verwiesen explizit auf ihre mündlichen Überlieferungen, nach denen ihre “Angehörigen dieses Land [rund um den Columbia River] seit Anbeginn der Zeit bewohnt hatten“ (Übersetzung SK).[11] Der Stamm der Colville reichte sogar eine eigene Klage ein. Viele Archäologen und andere Wissenschaftler waren wiederum davon überzeugt, dass eine derartige Verwandtschaft zwischen dem Kennewick-Mann und der heutigen indigenen Bevölkerung Amerikas nicht bestehen konnte und die Knochen deshalb der Öffentlichkeit für weitere Untersuchungen verfügbar gemacht werden sollten. 

Angesichts des beträchtlichen Alters der Überreste befand der Corps of Engineers diese Verwandtschaft zunächst jedoch für naheliegend.[12] Als der Corps dann in der Folge die Knochen an die Gemeinschaft indigener Stämme zurückgeben wollte, reichte eine Gruppe von acht Archäologen rund um Douglas W. Owsley ihrerseits eine Klage ein. Diese formulierten die Forscher auf Grundlage der von ihnen gesammelten Indizien, dass der Kennewick-Mann aus dem asiatischen Raum stamme. Im Februar 2004 verkündete Richter Gould vom United States Court of Appeals for the Ninth Circuit, dass NAGPRA in diesem Fall nicht angewendet werden kann. Aufgrund des enormen Alters und des unzureichenden Kenntnisstandes über besagten Zeitraum sei “ein genauer Rückschluss auf die besondere oder eindeutige genetische oder kulturelle Verbindung des Kennewick-Manns mit heutigen indigenen Stämmen, Völkergruppen oder Kulturen nicht möglich“ (Übersetzung SK).[13] Damit stand weiteren wissenschaftlichen Studien nichts mehr im Weg.  

 

Wem gehört der Kennewick-Mann?

Im Juli des Jahres 2015 veröffentlichte eine Gruppe von Forschern um die dänischen Archäologen und Ur-DNA-Experten Morten Rasmussen und Eske Willerslev einen Artikel, der beweiskräftig für eine Verbindung zwischen dem Kennewick-Mann und heute in Amerika lebendenden indigenen Stämmen plädiert. Es gelang den Forschern, kleine Mengen genetischen Materials aus den Mittelhandknochen zu entnehmen und so Teile des Genoms zu sequenzieren. Anschließend verglich das Team die DNA des Kennewick-Manns mit genetischem Material verschiedenster Populationen aus aller Welt. Der Vergleich zeigte “eine klare genetische Ähnlichkeit zur indigenen Bevölkerung Amerikas“ (Übersetzung SK),[14] was den US-amerikanischen Forschern nahelegte, jegliche Theorien über mögliche enge Verbindungen zu europäischen oder polynesischen Populationen zu verwerfen. Um noch genauere Aussagen über die Herkunft des Kennewick-Manns machen zu können, verglichen Rasmussen und seine Kollegen die von ihnen isolierte DNA zusätzlich mit dem Genom von Vertretern verschiedener indigener Stämme Amerikas (darunter fanden sich der Stamm der Colville aus dem amerikanischen Nordwesten, der kanadische Stamm der Athabasken und der brasilianische Stamm der Karitiana). Aus diesem Vergleich ergab sich, dass der Stamm der Colville die größte genetische Übereinstimmung mit dem Kennewick-Mann aufweist. Allerdings weisen die Forscher auch darauf hin, dass es angesichts der unvollständigen DNA-Datenbank der indigenen Völker Amerikas momentan nicht möglich sei, die nächsten lebenden Verwandten zu finden.[15] Nach Veröffentlichung der DNA-Ergebnisse formulierten die fünf Stämme gemeinsam mit US-Senatorin Patty Murray den 'Bring the Ancient One Home Act', welcher als Teil eines Gesetzesentwurfes im Dezember 2016 verabschiedet wurde.[16] Nach 20 Jahren rechtlicher und wissenschaflicher Debatten wurde der "Ancient One" an die indigenen Stämme zurückgeführt und am 18. Februar 2017 an einem unbekannten Ort bestattet.[17]

Seit der Entdeckung der Knochen wurde die Rekonstruktion der Geschichte dieses amerikanischen Vorfahren von US-amerikanischen Wissenschaftlern und ihren Annahmen über urzeitliche Migrationen sowie über rassische Klassifikationen dominiert. Die Wirkungsmacht wissenschaftlicher ‚Fakten‘ wurde vorranging zugunsten eines Narratives verwendet, das eine Besiedlung Amerikas durch frühe Populationen Asiens oder Europas beschreibt.  Diese Art von Theorien bewegt sich in der Tradition älterer kolonialer Wissenschaftsdiskurse und deren Versionen der amerikanischen Frühzeit. Dies geschieht in der Regel unter Vernachlässigung bzw. Ignorierung indigener mündliche Überlieferungen und Wissensbestände, in denen die Besiedlung Nordamerikas den Vorfahren der heutigen indigenen Völker zugestanden wird. Der Fall des Kennewick-Manns verdeutlicht aber auch, wie sehr sich die mit wissenschaftlichen Methoden erzeugten Narrative voneinander unterscheiden können. Kann dies etwa daran liegen, dass Rasmussens und Willerslevs Erkenntnisse weniger als diejenigen ihrer amerikanischen Kollegen von kolonialen Diskursen und Legitimationsinteressen in Nordamerika beeinflusst sind?[18] Beide Wissenschaftler haben auch in anderen spektakulären Fällen frühzeitlicher Skelettfunde dazu beigetragen, dass die Knochen an die Stämme zurückgegeben werden konnten.[19]

 

 

LITERATURNACHWEIS

[1] Chatters, James C. “Kennewick Man,” Smithsonian Institution, www.mnh.si.edu/arctic/html/kennewick_man.html (Zugang am 6.10.2015).

[2] Chatters, “Kennewick Man.”

[3] Preston, Douglas “ The Kennewick Man Finally Freed to Share His Secrets,” Smithsonian Magazine, www.smithsonianmag.com/history/kennewick-man-finally-freed-share-his-secrets-180952462/ (Zugang am 8.10.2015).

[4] Chatters, James, “Meet Kennewick Man,” PBS, www.pbs.org/wgbh/nova/tech/meet-kennewick-man.html (Zugang am 9.10.2015).

[5] Owsley and Jantz, eds. Kennewick Man.

[6] Chatters, “Kennewick Man.”

[7] Kelly, Robert L., and David H. Thomas. Archaeology. 5th ed. Belmont, CA: Wadsworth, 2010, Introduction.

[8] Chatters, “Kennewick Man.”

[9] Taylor, Kirner, et al. “Radiocarbon Dates of Kennewick Man.” Science 280.5367 (1998): 1171c.

[10] Chatters, “Kennewick Man.”

[11] Preston, “The Kennewick Man Finally Freed to Share His Secrets.”

[12] Slayman, Andrew, “Special Report: A Battle Over Bones,” Archaeology, archive.archaeology.org/9701/etc/specialreport.html (Zugang am 13.10.2015).

[13] Society for American Archaeology, “BONNICHSEN v. UNITED STATES,” The United States Court of Appeals for the Ninth Circuit, www.saa.org/Portals/0/SAA/repatriation/Gould.2004-02-04.pdf (Zugang am 8.10.2015).

[14] Rasmussen et al. “The ancestry and affiliations of Kennewick Man,” 456.

[15] Rasmussen et al. “The ancestry and affiliations of Kennewick Man,” 458

[16] Rosenbaum, Cary. “ELDER SERIES ARTIFACT: The Bone Protector, Adeline Fredin.” Tribal Tribune, 18 Feb. 2017. www.tribaltribune.com/news/article_e1a350ea-f47b-11e6-9c90-439d6d290bac.html. (Zugang am 21.02.1017).

[17] Rosenbaum, Cary. “Ancient One, also known as Kennewick Man, repatriated.” Tribal Tribune, 18 Feb. 2017. www.tribaltribune.com/news/article_aa38c0c2-f66f-11e6-9b50-7bb1418f3d3d.html. (Zugang am 21.02.2017).

[18] Es wäre interessant zu wissen, welche Testergebnisse sich aus dem Studium der DNA grönländischer Inuit ergeben würden (Grönland ist als ehemalige dänische Kolonie weiterhin politisch und ökonomisch in vielfacher Hinsicht unter dänischer Kontrolle).

[19] z.B. im Fall des sog. Anzick Boy. news.nationalgeographic.com/news/2014/02/140212-anzik-skeleton-dna-montana-clovis-culture-first-americans/

 

WEITERFÜHRENDE LITERATUR

Burke, Heather. Kennewick Man: Perspectives on the ancient one. Walnut Creek, Calif: Left Coast Press, 2008.

Burke Museum of Natural History & Culture, “Kennewick Man/The Ancient One,” www.burkemuseum.org/kennewickman (Zugang am 06.10.2015).

Chatters, James C. Ancient encounters: Kennewick Man and the first Americans. New York: Simon & Schuster, 2001.

National Park Service, “National NAGPRA,” U.S. Department of the Interior, www.nps.gov/nagpra/mandates/25usc3001etseq.htm (Zugang am 06.10.2015).

Owsley, Douglas W., and Richard L. Jantz, eds. Kennewick Man: The scientific investigation of an ancient American skeleton. College Station: Texas A&M University Press, 2014.

Rasmussen, Sikora, et al. “The ancestry and affiliations of Kennewick Man.” Nature 523.7561 (2015): 455-58. Web.

Thomas, David H. Skull wars: Kennewick Man, archaeology, and the battle for Native American identity. 1st ed. New York, N.Y: Basic Books, 2000.

Walker, Sally M., and Douglas W. Owsley. Their skeletons speak: Kennewick man and the Paleoamerican world. Minneapolis: Carolrhoda Books, 2012.

 

ABBILDUNGSVERZEICHNIS

Abbildung 1: Simon, Jamie, thumbs.media.smithsonianmag.com//filer/4c/a9/4ca9ad25-4849-413f-9019-863a288a2749/sep14_d99_kennewick.jpg__800x450_q85_crop_upscale.jpg (Zugang am 08.10.2015).

Abbildung 2: Adaptiert aus: Pilsudski, Bronislaw (1909), DOE Asia: Japan: Ainu: NM 50618 04734600, National Anthropological Archives, Smithsonian Institution, sirismm.si.edu/naa/97/asia/04734600.jpg (Zugang am 14.01.2016).

Abbildung 3: WGBH Educational Foundation, www.pbs.org/wgbh/nova/tech/meet-kennewick-man.html (Zugang am 09.10.2015).

Abbildung 4: Tatchell, Brittney, Smithsonian Institution, newshour-tc.pbs.org/newshour/wp-content/uploads/2015/06/kennewick-man-SI.png (Zugang am 09.10.2015).