Mount Coffin – Ein bemerkenswerter Fels

von Stefan Krause, 09.03.2016.

Zusammenfassung

Einst thronte ein einsamer Felsen über der Region der heutigen Stadt Longview, im US-Bundesstaat Washington. Als erster Europäer sah ihn 1792 der britische Lieutenant William R. Broughton. Auf dem Gipfel der mysteriösen circa 76 Meter hohen Gesteinsformation fand er mehrere Kanus, in denen sich menschliche Leichen befanden, und so nannte er den Felsen „coffin“ (deutsch: ‚Sarg‘). Broughton hatte eine Begräbnisstätte des lokalen Stammes der Cowlitz entdeckt. Über die Jahre diente Mount Coffin vielen Seereisenden als Landmarke. Doch zu Beginn des 20. Jahrhunderts kamen Forstwirtschaftskonzerne in die Gegend und veränderten das Land der Cowlitz für immer. Schon bald prägten ‚koloniale Landmarken‘ (wie z.B.  Brücken zum Holztransport und Fabrikgebäude) die Landschaft. Nach wenigen Jahrzehnten war der erhabene Mount Coffin komplett verschwunden. Was war passiert? Wie sah die Erschließung der Region durch westliche Unternehmen aus? Was können wir über die unterschiedlichen Möglichkeiten der Gestaltung und Verwaltung von Land lernen?

Als William R. Broughton, Kapitän der HMS Catham im Oktober 1792 seine Reise entlang des Columbia River begann, war er nach der offiziellen Geschichtsschreibung der zweite westliche Seefahrer in diesen Gewässern. Der Amerikaner Robert Gray hatte den Fluss nur wenige Wochen zuvor erkundet und benannte ihn nach seinem Schiff: Columbia.[1] Broughton fertigte in seiner Eigenschaft als Mitglied der Expedition George Vancouvers während seiner ausführlicheren Erkundungen eine detaillierte Karte des Flusses an, in der er zahlreiche geographische Besonderheiten festhielt und benannte. Eine dieser Besonderheiten „war ein bemerkenswerter Berg, auf dem mehrere Kanus platziert waren, in denen sich tote Körper befanden“[2]. Broughton nannte den kleinen Berg „Mount Coffin.“ Der Felsen befand sich am Zusammenfluss von Columbia und Cowlitz River (in der Nähe der heutigen Stadt Longview) und sollte nicht mit ‚Coffin Rock‘ verwechselt werden – einer anderen indigenen Begräbnisstelle auf einem einsamen Felsen weiter flussaufwärts.

 

Begräbnisstätte und Geographische Landmarke

In den Jahren nach Broughtons Reise verwiesen mehrere Entdeckungsreisende in ihren Aufzeichnungen auf den seltsamen Felsen. Im November des Jahres 1805 passierten beispielsweise die berühmten amerikanischen Entdecker Meriwether Lewis und William Clark diese Landmarke und beschrieben sie als „eine sehr bemerkenswerte Kuppe“ [3]. 1811 nahm David Stuart im Rahmen der vom deutsch-amerikanischen Händler Johann Jakob Astor organisierten Expedition von Mount Coffin Notiz, als er den Columbia River auf der Suche nach einem geeigneten Standort für einen Pelzhandelsposten flussaufwärts befuhr. Stuart erwähnte, dass „sie an einer Stelle des Flusses, die sie passierten, auf der nördlichen Seite einen abgeschiedenen Felsen fanden, der ungefähr 150 Fuß [ca. 46 Meter] hoch war, aus dem niedrigen Sumpfboden emporragte, und komplett abgetrennt von allen umliegenden Bergen war. Dieser wurde als eine der Hauptbegräbnisstätten von den angrenzenden Indianerstämmen sehr verehrt“ [4] Einige Jahre später, im Jahr 1841, bestieg Lieutenant Charles Wilkes von der United States Exploring Expedition den Gipfel des Felsen um astronomische Beobachtungen zu machen, wobei er unglücklicherweise Teile der Grabstätte in Brand setzte.[5]  Ein Stammessprecher der Cowlitz, Roy I. Rochon Wilson, schildert eine abweichende Version, in der er annimmt, dass „Wilkes beabsichtigte, den ökologischen Nutzen des Ortes zu verbessern, was jedoch zu einem weiteren Akt der Unterdrückung durch die nun flutartig eintreffende dominante Gesellschaft wurde“[6]. Die frühen Beschreibungen durch westliche Entdecker hinterlassen damit den Eindruck, dass Mount Coffins Status als Landmarke und als für die indigene Bevölkerung heilige Stätte oft verstanden und akzeptiert wurde, dass jedoch gleichwohl die Präsenz des weißen Mannes begann, Spuren der Zerstörerung zu hinterlassen.

Abbildung 1: Alte Postkarte, Weyerhaeuser-Sägewerk mit Mount Coffin im Hintergrund.

Das traurige Schicksal des Mount Coffin                

Die Auswirkungen des Kolonialismus und der Erschließung des Westens wurden unübersehbar, als 1850 ein Programm zur Inbesitznahme von Land im Oregon Territory eingerichtet und das Land um Mount Coffin von D.W. Bush gekauft wurde.[7] Bush behielt das Land für mehr als vier Jahrzehnte, bevor er es 1908 an die Star Sand and Gravel Company aus Portland verkaufte. Zu diesem Zeitpunkt war der ‚bemerkenswerte Felsen‘ bereits ein beliebter Ort für Besucher, Liebende und Grabräuber geworden, die Pfeilspitzen und andere Objekte von der indianischen Grabstätte stahlen. Anschließend diente der Fels als Steinbruch, aus dem Baumaterial für Straßen und Anlegestellen extrahiert wurde. In den 1920ern kaufte der Forstwirtschaftskonzern Weyerhaeuser des deutsch-amerikanischen Holzmoguls Friedrich Weyerhäuser schließlich das Gebiet um Mount Coffin. Die lokale Industrie setzte den Steinabbau am Mount Coffin fort, bis der Fels im Jahr 1941 auf die Hälfte seiner einstigen Größe geschrumpft war und in den 1950ern komplett eingeebnet wurde.[8]                

Dieser Wandel wurde in Bildern und Postkarten festgehalten. Fotografien aus den 1920ern zeigen Mount Coffin noch als Landmarke, die über den umliegenden Industrieanlagen und dem Hafen von Longview thront (Abbildung 1). Die Bilder zeigen jedoch auch, wie der Felsen nach und nach seines Basaltsediments und seines Status als Zeremonialstätte beraubt wurde. Postkarten aus den 1930ern stellen dar, wie die geografische Landmarke von den Gebäuden des Weyerhaeuser-Konzerns überragt wurde – mit anderen Worten, wie die kulturelle Landmarke sich nach und nach in eine kommerzielle verwandelte (Abbildung 1). Im Allgemeinen sind Landmarken hervorstechende Objekte oder geografische Eigenheiten, die eine gewisse Landschaft bestimmen und oft als Orientierungshilfe für Reisende fungieren. Doch während Mount Coffin ein Beispiel für eine natürliche Landmarke war (obwohl auch diese durch indianische Bestattungspraktiken verändert wurde), stellten die Gebäude der lokalen Holzindustrie ausschließlich durch Menschen geschaffene Landmarken dar. Darüber hinaus zählten diese Industrieanlagen zu den ersten permanenten Gebäuden, die Europäer und Amerikaner in der Gegend errichteten. Westliche Akteure beanspruchten das Land indigener Völker durch landschaftsdominierende Bauten gewissermaßen für sich. Bauten wie Longviews Sägewerke kommt so der Status einer ‚kolonialen Landmarke‘ zu. Mount Coffin wurde letztlich von ‚kolonialen Landmarken‘ ersetzt. Die Konstruktionen und Gebäude der Holzindustrie unterstreichen auf diese Weise, wie sich der Charakter der Region durch seine geografischen und von Menschenhand geschaffenen Besonderheiten gewandelt hat. Beispiele für die neue Art von Landmarken sind neben dem Sägewerk von Weyerhaeuser auch die Brücken zum Holztransport Baird Creek (Abbildung 2) und die ‚Berge‘ von Holz, die die Sägewerke produzierten (Abbildung 3) und deren Form ironischerweise eine gewisse Ähnlichkeit mit Mount Coffin aufweist.

Abbildung 2: Baird Creek-Brücke der lokalen Holzindustrie. Im Hintergrund die leergerodeten Hügelkuppen.

Die zweifelhafte Logik des Fortschritts

Die Zerstörung von Mount Coffin und der Wandel innerhalb der lokalen Landmarken kann als Beispiel für einen schrittweise ablaufenden Prozess betrachtet werden, der gelegentlich als notwendige Folge des ‚Fortschritts‘ interpretiert wird. Ein Gedicht von Mrs. Charles H. Olson, einer Bürgerin aus Longviews Nachbarstadt Kelso, das in der Lokalpresse im Jahr 1935 veröffentlich wurde, drückt diese Tatsache mit folgender Strophe aus:

                „Der Mount Coffin, baumgekrönter majestätischer Fels,
                Von den Indianern verehrt, ein geweihtes Stück Land,
                Für all seine Schönheit und Würde bekannt,
                Der Einzug des ‚Fortschritts‘ rang ihn hernieder.“[9]

Dieser ‚Fortschritt‘ fand zu großen Teilen ohne die Einbeziehung der indigenen Bevölkerung statt. Erst im Jahr 2000 wurde das Volk der Cowlitz bundesstaatlich als Stamm anerkannt. 2005 besuchten Mitglieder des Stammes schließlich Mount Coffins früheren Standpunkt, um den Ort zu heiligen.[10] Während dieser Zeremonie reinigten sie den Ort um ihre Vorfahren zu ehren und um zu einem Abschluss mit der Vergangenheit zu gelangen. Während in vielen Fällen die Beiträge einzelner Akteure, die an der Gestaltung von Geschichte mitwirken, nicht mehr im Einzelnen rekonstruiert werden können, ist dies im Fall des Mount Coffin anders: Profiteur des Holzabbaus war die Firma des aus dem Rheinland immigrierten Großunternehmers Friederich Weyerhäuser, dessen Vermögen auf eine Höhe von zwischen 20 und 30 Millionen US-Dollar geschätzt wurde. Weyerhäuser stand im Ruf, der reichste Mann Amerikas zu sein – reicher noch als Rockefeller. Sein Weg vom armen Einwandererjungen zum „Lumber King“ entspricht der klassischen Erzählung des amerikanischen Traums. Dass sein riesiges Firmengeflecht zeitweise unter dem Verdacht der Kartellbildung stand, gehört zu einer solchen Geschichte dazu. So wurde die Geschichte von Mount Coffin von verschiedenen Personen geschrieben, deren Interessen zum Teil extrem divergierten, in denen Holz jedoch eine zentrale Rolle spielt. Es ist eine von vielen Geschichten, die veranschaulicht, wie indigene und koloniale Akteure die Vergangenheit und die Gegenwart des pazifischen Nordwestens formten.

Abbildung 3: Mitarbeiter des Long-Bell-Konzerns in Kelso vor einem ‚Berg‘ von Holz.

LITERATURNACHWEISE

[1], Derek Hayes. Historical Atlas of the Pacific Northwest: Maps of exploration and discovery: British Columbia, Washington, Oregon, Alaska, Yukon. Seattle: Sasquatch Books, 1999. 85.

[2] John Vancouver. A Voyage of Discovery to the North Pacific Ocean, and Round the World; in Which the Coast of North-West America Has Been Carefully Examined and Accurately Surveyed. Undertaken by His Majesty's Command, Principally with a View to Ascertain the Existence of Any Navigable Communication between the North Pacific and North Atlantic Oceans; and Performed in the Years 1790, 1791, 1792, 1793, 1794 and 1795, in the Discovery Sloop of War, and Armed Tender Chatham, under the Command of George Vancouver. Vol. III. London: Printed for John Stockdale, 1801. 98.

[3] Lewis, Meriwether, Clark, William, et al. November 6, 1805. The Journals of the Lewis and Clark Expedition. Ed. Gary Moulton. Lincoln: U of Nebraska Press, 2002. The Journals of the Lewis and Clark Expedition. 2005. U of Nebraska Press / U of Nebraska-Lincoln Libraries-Electronic Text Center. 05.10.2005. 

[4] Washington Irving. Astoria; or Anecdotes of an Enterprise Beyond the Rocky Mountains. Edgeley W. Todd, ed. Norman: University of Oklahoma Press, 1964. 99.

[5] David Wilma. “Cowlitz County -- Thumbnail History.” HistoryLink.org.www.historylink.org/index.cfm (Zugriff am 15.12.2015).

[6] Roy I. Rochon Wilson. “Roy I. Rochon Wilson Commentary: The Tragic Destruction of Coffin Rock.” The Chronicle. www.chronline.com/records/roy-i-rochon-wilson-commentary-the-tragic-destruction-of-coffin/article_a82896fa-2003-11e2-9a44-0019bb2963f4.html (Zugriff am 15.12.2015).

[7] Roy I. Rochon Wilson. “Roy I. Rochon Wilson Commentary: The Tragic Destruction of Coffin Rock.”

[8] Lyn Topinka. "Mount Coffin, Washington." ColumbiaRiverImages.com.columbiariverimages.com/Regions/Places/mount_coffin.html (Zugriff am 15.12.2015).

[9] Brooks Johnson,. “History month: Grave robbers.” The Daily News Online. tdn.com/news/local/history-month-grave-robbers/article_64cc51b6-0199-5891-89d9-d1623beb1593.html (Zugriff am 15.12.2015).

[10] Sally Ousley. “Cowlitz sanctify Coffin Rock.” The Daily News Online. tdn.com/business/local/cowlitz-sanctify-coffin-rock/article_b940b538-7592-51ce-9dc5-b657fcf645ba.html (Zugriff am 15.12.2015).

 

ABBILDUNGSVERZEICHNIS

Abbildung 1: Topinka, Lyn. ColumbiaRiverImages.com. ca. 1930. www.columbiariverimages.com/PennyPostcards/Images/PC_weyerhaeuser_mill_with_mount_coffin_ca1930.jpg (Zugriff am 15.12.2015).

Abbildung 2: LPL Longview Room Photographs. Longview Public Library. 1940. contentdm.longviewlibrary.org/cdm/singleitem/collection/lvr/id/926/rec/24 (Zugriff am 15.12.2015).

Abbildung 3: Walker, Craig. R. A. Long Historical Society. 1920s. www.ralonghistoricalsociety.org/1000crd.htm (Zugriff am 15.12.2015).

Abbildung Kurzfassung: LPL Longview Room Photographs. Longview Public Library. 1928. contentdm.longviewlibrary.org/cdm/singleitem/collection/lvr/id/2740/rec/4 (Zugriff am 15.12.2015).