'Tiere der Urwelt': Heinrich Harders Illustrationen, Wikipedia und das große Aussterben im Pleistozän
Zusammenfassung
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts schuf Heinrich Harder, ein Maler aus Pommern, eine Reihe von Illustrationen für die Sammelkartenserie Tiere der Urwelt. Nachdem die Sammelkartenserie eine darwinistische Weltanschauung der Urwelt vertrat, sollten die Illustrationen von Harder in den folgenden 100 Jahren verschiedene Bedeutungen annehmen. Als Artefakte wurden die Illustrationen in den späten 1960er Jahren mit einer neuen Bedeutung aufgeladen: sie wurden zu beliebten Darstellungsmitteln der sogenannten „Pleistocene Overkill“-Hypothese, einer Argumentation, die den amerikanischen Ureinwohnern die Verantwortung für die Ausrottung großer Teile der Megafauna am Ende des Pleistozäns, also vor etwa 11,700 Jahren, gab. Wieso wurden die Illustrationen von Harder zu so beliebten Darstellungsmitteln für die „Pleistocene Overkill“-Hypothese? Dieser Artikel wird durch eine Analyse von Harders Illustrationen in Wikipedia-Artikeln versuchen diese Frage zu beantworten.
Als der Maler Heinrich Harder am 5. Februar 1935 in Berlin starb, konnte er auf ein ereignisreiches Leben zurückblicken. 1858 in Putzar, Vorpommern, geboren, hatte er seine Karriere mit Landschaftsmalereien begonnen und wurde später einer der einflussreichsten deutschen Maler lebender und (‚prähistorischer‘) Tiere. Als solcher illustrierte er mehrere Bücher sowie Artikel in der populären Zeitschrift Die Gartenlaube. Des Weiteren kreierte er zusammen mit Wilhelm Bölsche, der die Illustrationen mit kurzen informativen Texten begleitete, 60 Bilder für die Sammelkartenserie Tiere der Urwelt. Die von der Theodor Reichardt Kakao-Kompanie produzierte Serie zeigte ‚prähistorische‘ Tiere in ihrer natürlichen Umgebung. Heinrich Harder war ebenfalls für die Gestaltung der Fassade des Berliners Aquariums im Jahr 1913 verantwortlich.
Dieser Artikel wird die Geschichte der Illustrationen von Tiere der Urwelt verfolgen und versuchen herauszufinden, wieso sie sich heutzutage einer so hohen Beliebtheit erfreuen. Bis heute werden die Illustrationen von Harder in mehreren Wikipedia-Artikeln für die Darstellung prähistorischer Sachverhalte genutzt. Die Darstellung des Glyptodons zum Beispiel (siehe Abbildung 5 & 6), begleitet unter anderem die Artikel zu “Paleo-Indians”, zum “Great American Interchange”, zum “Paleolithic”, zu “Indigenous people of the Americas” und zum “Mesa Verde National Park.”[1]
Ursprünge von Tiere der Urwelt
Wie im Artikel über die zeitgenössische Bedeutung von Tiere der Urwelt bereits erläutert, hatten die Illustrationen von Heinrich Harder – zusammen mit den Texten von Wilhelm Bölsche – einen kolonialen und (sozial)darwinistischen Hintergrund. Die Sammelkarten zirkulierten in einer breiten Öffentlichkeit und wurden auch weiter genutzt, nachdem sich Vorstellungen von einer ‚verschwindenden‘ indigenen Bevölkerung überholt hatten. Als Artefakte konnten die Sammelkarten in einer anderen Zeit, in einem anderen Raum und in einem anderen gesellschaftlichen Umfeld mit neuen Bedeutungen und Vorstellungen aufgeladen werden. Daher ist es kaum verwunderlich, dass Teile der Sammelkarten Anfang der 1960er Jahre in einem neuen Kontext wieder an Bedeutung gewannen. Das Medium Sammelkarten wurde nach dem frühen 20. Jahrhundert von anderen (visuellen) Medien abgelöst und nur noch von einer Handvoll Enthusiasten und Sammlern genutzt. Dadurch verloren allerdings die Illustrationen von Harder nicht an Bedeutung. Sie wurden in andere Medien, wie zum Beispiel Bücher, Zeitschriften und später das Internet transferiert und so von Bölsches Texten gelöst, deren (sozial)darwinistische Perspektive nicht mehr in die Zeit passte. Im Gegensatz zu Bölsches Texten konnten die Illustrationen von Harder umgedeutet werden. Hier soll nun erläutert werden, in welche Kontexte die Illustrationen von Harder integriert werden konnten, während die Texte von Bölsche vergessen oder ignoriert wurden.
Ich werde mich in den folgenden Abschnitten beispielhaft mit der Verwendung einer Illustration von Heinrich Harder beschäftigen: dem Glyptodon von Sammelkarte Nr. 1. Durch die Darstellung von Menschen in Verbindung mit dem Tier konnte die Illustration mühelos in verschiedene Kontexte integriert werden, die weit über den Bereich des Tieres hinausgehen.
Glyptodon zeigt zwei mit Speeren bewaffnete menschliche Jäger (vermutlich Vorfahren der amerikanischen Ureinwohner), die sich auf einer Ebene vor dem vorbeiziehenden Glyptodon hinter Büschen verstecken. Die Jäger stehen offensichtlich kurz vor einer Attacke auf das nichtsahnende Tier. Die Landschaft verweist auf die Great Plains in Nordamerika und besteht aus flachem Grasland sowie Hügeln im Hintergrund. Die Illustration verweist auf die Gleichzeitigkeit von menschlicher Besiedlung und der Existenz der pleistozänen Megafauna, ein umstrittener Punkt zu Anfang des 20. Jahrhunderts.
Illustrationen als Medium für die Repräsentation einer ‚prähistorischen‘ Zeit
Heutzutage ist die Gleichzeitigkeit von menschlicher Besiedlung und einigen Arten der Glyptodon-Familie längst bewiesen. Bevor wir allerdings einen genaueren Blick auf die Verwendung der Illustration werfen, müssen einige grundsätzliche Aspekte der visuellen Darstellungen ‚prähistorischer‘ Epochen erläutert werden. Sie leidet unter einer Armut zeitgenössischer materieller Belege. Visuelle Hinterlassenschaften, wie Höhlenmalereien, werden nur selten genutzt, da sie für den modernen Betrachter fremd wirken. Stattdessen werden Repräsentation der Vorgeschichte von einem Mix visueller Medien dominiert: Fotografien von Artefakten; Fotografien, die Ähnlichkeiten aufzeigen, wie zum Beispiel heute noch existierende Tiere oder Pflanzen); wissenschaftliche Darstellungen wie Karten, Tabellen oder Grafiken; und Gemälde. Der Wikipedia Artikel „Paleolithic“ enthält zum Beispiel drei Gemälde, sechs Darstellungen von Artefakten und drei Fotografien die Ähnlichkeiten aufzeigen (eine Pflanze, ein Tier, und eine Landschaft).[2] In diesem Ensemble spielen Gemälde eine wichtige Rolle für die lebhafte Darstellung der Epoche. Im Unterschied zu den anderen visuellen Repräsentationen können Illustrationen lebendige und aktive Tiere und Menschen abbilden. Dadurch sind Gemälde wichtig für die emotionale Verbindung und Identifikation zwischen Leser und Artikel/Epoche, während die Fotografien der Artefakte das wissenschaftliche Fundament legen.
Zusätzlich verfügen Illustrationen über zwei weitere Vorteile für die visuelle Darstellung der Vorgeschichte: Die meisten Illustrationen der Vorgeschichte sind älteren Datums, wodurch im Gegensatz zu moderneren Bildern keine Schwierigkeiten mit Copyright- bestehen. Zweitens verfügen die verwendeten Illustrationen aufgrund ihres Alters über eine gewisse Wirkungsmacht (die Autorität des Historischen) für die Repräsentation historischer Ereignisse. Hier profitieren Illustrationen mit ‚prähistorischen‘ Motiven von der etablierten Tradition, Ereignisse (wie zum Beispiel die Französische Revolution) mit Hilfe zeitgenössische Gemälde darzustellen. Diesbezüglich sind Abbildungen mit prähistorischen Motiven irreführend, weil der Maler kein Zeitzeuge gewesen sein kann. Gerade wegen des erheblichen Zeitunterschieds zwischen der dargestellten Zeit und der Entstehung der visuellen Repräsentation ist eine historische Einordnung der Illustrationen in Entstehungszeit von großer Bedeutung.
Die “Pleistocene Overkill”-Hypothese und die Verwendung von Harders Illustrationen auf Wikipedia
Die Illustrationen von Heinrich Harder erfüllen auf Wikipedia mindestens drei verschiedene Funktionen, die hier am Beispiel von Glyptodon erläutert werden. Erstens dient Glyptodon zur Illustration des „Paleo-Indians“-Artikels. Die Abbildung begleitet die Zusammenfassung am Anfang des Texts und nimmt damit eine besondere Position ein. Glyptodon wird in einer ähnlichen Funktion in den Artikeln “History of South America”, “Indigenous peoples of the Americas” und “History of Andean South America” als eine allgemeine Illustration für die Urzeit genutzt. Als zweite Funktion taucht die Abbildung in Zusammenhang mit spezifischen Orten (“Mesa Verde National Park”; “Syracuse Lake”), Personen (“Heinrich Harder”) und Tieren (“Glyptodon”) auf. Drittens wird Glyptodon genutzt, um Artikel die sich mit dem Aussterben der Pleistozänen Megafauna beschäftigen zu bebildern. So illustriert die Abbildung im Artikel „Great American Interchange“ den Absatz mit dem Titel „Late Pleistocene extinctions.“ In diesem Zusammenhang wird ein Erklärungsansatz für das Aussterben der Tiere bevorzugt: die Ausrottung durch die menschliche Jagd wie auf der Illustration gezeigt (“human activities were pivotal”[3]). Bereits im „Paleolithic“-Artikel, in dem die Illustration eher der allgemeinen Illustration dient, lautet die Bildunterschrift: „Paleoindianer jagen ein Glyptodon. Glyptodons wurden innerhalb von 2,000 Jahren nach der menschlichen Ankunft in Südamerika bis zur Ausrottung gejagt“ (Abbildung 6)[4].
Dieser spezifische Erklärungsansatz, die sogenanntePleistocene Overkill-Hypothese, ist in der Wissenschaft umstritten und keinesfalls bewiesen. Es existieren eine ganze Reihe anderer Erklärungen für das Aussterben der pleistozänen Megafauna. Dabei ist die wissenschaftliche Debatte von einem starken moralischen Unterton geprägt, der sich aus dem kolonialen Kontext ihrer Entstehung ergibt. Es fallen unsachliche Stichworte wie „unökologische Indianer“, „Blitzkrieg“ und „Massentötungen“ (“unecological Indians”, “blitzkrieg” and “mass killings”[5]). Paul Martin, ein Archäologe aus Arizona, ließ in den späten 1960er Jahren die These eines „Pleistocene Overkills“ durch die Ureinwohner wiederaufleben.[6] Das steigende Umweltbewusstsein in den folgenden Jahrzehnten und die Idee, dass die Menschheit zunehmend die Natur zerstört, verstärkten die Popularität der These. Unter diesen Umständen ist es ein wenig überraschend, dass die Illustrationen von Harder an Popularität gewannen, denn sie ließen – entgegen dem dominanten Diskurs des indianischen Naturbewußtseins - den Schluss zu, dass die Zerstörung der Umwelt nicht nur von einer modernen kapitalistischen Gesellschaft betrieben worden war, sondern auch bereits von indigenen Bevölkerungen. Wie die Debatte selbst ist der Gebrauch der Abbildungen von Harders Illustration zur Förderung der „Pleistocene Overkill“-Hypothese nicht auf die anglophone Welt beschränkt. Im deutschen Wikipedia-Artikel über die „Quartiäre Aussterbewelle“) wird Glyptodon, zusammen mit einer weiteren Illustration von Harder (die menschliche Jäger auf Neuseeland zeigt) im Abschnitt „Der Mensch als Verursacher”[7] gezeigt.
Weil die englische Version von Wikipedia eine Führungsrolle im Lexikon einnimmt,[8] werden viele Argumente und insbesondere Bilder in andere Sprachen übernommen. Die Texte der Sammelkarten von Bölsche tauchen natürlich nicht mehr auf und verschwinden hinter den Illustrationen von Harder. Die Texte würden die sozialdarwinistische und koloniale Herkunft der Illustrationen enthüllen und den Rezipienten erlauben, sie im Originalkontext ihres Entstehens zu betrachten.
Heutzutage liefern die Illustrationen von Heinrich Harder eine viel genutzte Grundlage für die Bebilderung der These des „Pleistocene Overkill.“ Gerade deswegen ist es wichtig sich der historischen Umstände ihrer Entstehung bewusst zu sein, bevor sie in den 1960er Jahren für neue Zwecke adaptiert wurden. Angefangen von ihrem deutschen und (sozial)darwinistischen Ursprung werden die Illustrationen nun im globalen und öffentlichen Diskurs dafür genutzt, die Ausrottung der pleistozänen Megafauna durch die indigene Bevölkerung zu illustrieren und zu beweisen. Die Illustrationen Harders konnten sich also nie von ihrer kolonialen Herkunft lösen. Vielmehr veränderte sich ihre Verwendung im Laufe der Zeit in einer ähnlichen Weise wie sich koloniale Ideen ständig veränderten.
LITERATURNACHWEISE
[1] https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Glyptodon_old_drawing.jpg; Zugriff am 30.03.2016. Wenn nicht anders gekennzeichnet, beziehen sich alle folgende Zitate auf englischen Fassung der Wikipedia Artikel.
[2] https://en.wikipedia.org/wiki/Paleolithic; Zugriff am 30.03.2016.
[3] https://en.wikipedia.org/wiki/Great_American_Interchange; Zugriff am 01.04.2016.
[4] https://en.wikipedia.org/wiki/Paleolithic; Zugriff am 01.04.2016.
[5] Russell, Nerissa. Social Zooarchaeology: Humans and Animals in Prehistory. Cambridge: Cambridge UP, 2012, S. 205.
[6] Grayson, Donald K. „Vicissitudes and Overkill: The Development of Explanations of Pleistocene Extinctions.” In: Michael B. Schiffer (Ed.). Advances in Archaeological Method and Theory: Volume 3. New York: Academic Press, 1980, S. 357-404, S. 381.
[7] https://en.wikipedia.org/wiki/Quaternary_extinction_event; Zugriff am 19.03.2016.
[8] Die englische Version von Wikipedia enthält ungefähr doppelt so viele Artikel wie die schwedische auf dem zweiten Platz. Quelle: en.wikipedia.org/wiki/List_of_Wikipedias; Zugriff am 01.04.2016.
ABBILDUNGSVERZEICHNIS
Abbildung 1-4: Bräuer, Alexander. Heinrich Harders Abbildung im Aquarium in Berlin. Quelle: 09.2016. JPEG. © Alexander Bräuer.
Abbildung 5: Originalabbildung von Heinrich Harder “Riesengürteltier” (Glyptodon), ca. 1900. Quelle: Tiere der Urwelt: Rekonstruktionen nach verschiedenen wissenschaftlichen Vorlagen. Wandsbek-Hamburg: Verl. der Kakao Compagnie Theodor Reichhardt, ca. 1900. diglib.bis.uni-oldenburg.de/retrodig/buch.php; Zugriff am 27.03.2016.
Abbildung 6: Heinrich Harders Gemälde Glyptodon mit einer Bildunterschrift, die eine Beziehung zur “Pleistocene Overkill”-Hypothese herstellt. Source: https://en.wikipedia.org/wiki/Paleolithic; Zugriff am 01.04.2016.
Abbildung 7: “Moa-Vögel“ (Dinornis). Originalabbildung von Heinrich Harder Quelle: Tiere der Urwelt: Rekonstruktionen nach verschiedenen wissenschaftlichen Vorlagen. Wandsbek-Hamburg: Verl. der Kakao Compagnie Theodor Reichhardt, ca. 1900. diglib.bis.uni-oldenburg.de/retrodig/buch.php; Zugriff am 27.03.2016.