Die Tiere der Urwelt-Trilogie: Sammelkarten als Artefakte

von Alexander Bräuer, 14.04.2016.

Zusammenfassung

Sammelkarten waren zu Beginn des 20. Jahrhunderts tief verwurzelt im Alltag Deutschlands. Stollwerck, der bekannte Schokoladenfabrikant aus Köln und führender Hersteller von Sammelkarten, produzierte alleine zwischen den Jahren 1896 und 1899 200 Millionen Karten. Sammelkarten kombinierten meistens eine bildliche Darstellung auf der Vorderseite mit einem Text auf der Rückseite, der oft mit der Werbung für den Hersteller – meistens Firmen für koloniale Produkte – verbunden war. Die Sammelkartenserie Tiere der Urwelt wurde von der Theodor Reichardt Kakao-Fabrik vertrieben; Heinrich Harder war der Maler und Wilhelm Bölsche lieferte die Texte. 30 vermeintliche Tiere der Urwelt werden in ihrer vermeintlich ‚natürlichen‘ Umgebung dargestellt und auf der Rückseite kurz erläutert. Dabei beeinflusste die Sammelkartenserie nicht nur die Konstruktionen einer (amerikanischen) Frühgeschichte im Deutschland des beginnenden 20. Jahrhunderts, sondern kreierte auch Darstellungen, die bis heute Einfluss auf die visuelle Repräsentation der Urzeit haben. Der folgende Artikel wird die Sammelkartenserie Tiere der Urwelt vorstellen sowie einige Grundlagen für eine Trilogie von Artikeln legen, die sich mit verschiedenen Aspekten dieses faszinierenden Artefakts beschäftigen.

Das späte 19. und frühe 20. Jahrhundert stellte das Goldene Zeitalter für Bildpostkarten und verwandte mediale Repräsentationen wie zum Beispiel Reklamesammelbilder dar. Sammelkarten erreichten eine große Kundschaft und insbesondere deutsche Karten verteilten sich über die ganze Welt. Die deutschen Druckereien dominierten den Weltmarkt und belieferten andere große Märkte wie die USA und Frankreich mit Postkarten und Sammelbildern. In den 1860er Jahren begann Stollwerck, ein Schokoladenhersteller aus Köln, mit der Produktion von Sammelkarten, die schnell an Popularität gewannen und für ihre qualitativ hochwertigen Bilder und informativen Texte bekannt waren. Seitdem standen Sammelkarten und koloniale Produkte in einer produktiven Wechselbeziehung, die nicht unwesentlich zur Popularisierung kolonialer Gedanken in der Öffentlichkeit des Deutschen Kaiserreichs beitrug. Die Karten wurden oft zusammen mit kolonialen Produkten wie Kaffee, Tee, Zucker, Schokolade oder Tabak verteilt und so konnten die Konsumenten direkt über den exotischen und kolonialen Wert ihrer Ware aufgeklärt werden.

Die Sammelkartenserie Tiere der Urwelt wurde von einer der größten Schokoladenfabriken der Welt, der Theodor Reichardt Kakao-Fabrik in Wandsbek, Hamburg, herausgegeben. Dementsprechend begleiteten die Karten die Produkte der Fabrik, wurden als Werbemaßnahme verteilt oder separat verkauft.

Abbildung 1: Darstellung der Theodor Reichardt Kakao-Fabrik in Hamburg. Bis zum ersten Weltkrieg war Reichardt einer der größten Hersteller von Schokolade in der Welt.

Kinder mögen zwar die Hauptzielgruppe von Sammelkarten gewesen sein, aber die hohe Qualität der bildlichen Darstellungen und die elaborierten Texte weisen auf die Absicht hin auch ältere Zielgruppen anzusprechen. Tiere der Urwelt bestand aus drei Serien (Ia, II und III) zu je 30 Karten. Serie Ia und III wurden von Heinrich Harder illustriert, Serie II von F. John, und alle drei wurden von Wilhelm Bölsche beschriftet.  Die Trilogie wird sich auf Serie Ia konzentrieren, welche vermutlich zwischen 1900 und 1916 produziert wurde und aus 30 kolorierten Darstellungen im Format 19,6 x 27,4 cm bestand. Jede Karte hatte eine chromolithografische Abbildung eines Tiers auf der Vorderseite und einen Text mit weiteren Informationen auf der Rückseite. Die 30 Karten konnten in einem Sammelalbum kombiniert werden. Als Artefakte konnten Sammelkarten aufgrund ihrer unterschiedlichen Verwendungsmöglichkeiten verschiedene Bedeutungen annehmen, die zur Konstruktion einer (amerikanischen) Frühgeschichte beitrugen.

Abbildung 2: Vorderseite (recto) von Sammelkarte Nr. 2, dem Riesenfaultier, aus Tiere der Urwelt. Heinrich Harder signierte sein Werk unten rechts auf dem Bild und der Name des Herstellers, Reichardt, wurde unter dem Bild rechts platziert.

Die Erschaffer: Heinrich Harder und Wilhelm Bölsche

Heinrich Harder, ein Maler aus Putzar in Vorpommern, erstellte die Illustrationen für die Vorderseite der Sammelkarten. Harder begann seine Karriere mit Landschaftsmalerei in Berlin, bevor er sich der Darstellung von (historischen) Tieren zuwandte. Dabei profitierte er von den Werken anderer Maler wie Charles R. Knight, die die Malerei von historischen und ausgestorbenen Tieren etablierten. Seine Gemälde bildeten die Tiere in ihrer natürlichen Umgebung ab und waren für ihre hohe Qualität bekannt. Harder kooperierte für die Herstellung der Sammelkarten eng mit dem Autor Wilhelm Bölsche, mit dem ihn eine Partnerschaft in weiteren Projekten wie Zeitungsartikeln und Büchern verband. Bölsche wurde dadurch bekannt, dass er komplexe und zeitgenössische wissenschaftliche Theorien verständlich ausdrücken und damit einer breiten Masse zugänglich machen konnte. Er machte sich um die Etablierung erster Volkshochschulen und die ‚Erfindung‘ des Sachbuch-Genres in Deutschland verdient. Die Texte der Sammelkarten gingen auch weit über bloße Beschreibungen der Tiere hinaus und konnten unter anderem Diskussionen über die Positionierung der Tiere in der Evolution, das Verbreitungsgebiet, bekannte archäologische Funde, Ernährung oder Verhalten der Tiere, Mythen und Sagen von indigenen und lokalen Bevölkerungsgruppen, sowie wissenschaftliche Dispute umfassen. Eine Analyse der Sammelkarten muss die Illustrationen von Harder zusammen mit den Texten von Bölsche, also das Zusammenspiel dieser beiden Medien, berücksichtigen. Erst die Kombination von Bild und Text, sowie die preisgünstige Produktion und hohe Mobilität des Mediums, machten Sammelkarten populär für die Vermittlung von Ideen über die (amerikanische) Frühgeschichte.

Abbildung 3: Rückseite (verso) von Sammelkarte Nr. 2, dem Riesenfaultier, aus Tiere der Urwelt. Die Texte von Wilhelm Bösche wurden mit einer kurzen Erläuterung des Bildes nach der Überschrift eingeleitet. Im Gegensatz zu den meisten anderen Sammelkarten war der Name des Herstellers (Reichardt) kein Bestandteil der Rückseite. Dadurch erhielt die Sammelkartenserie Tiere der Urwelt Ia keinen kommerziellen, sondern einen informativen Charakter. Die nachfolgenden Serien (II und III) von Tiere der Urwelt kehrten wieder zur üblichen Darstellung des Herstellers auf der Rückseite zurück.

Tiere der Urwelt seit dem frühen 20. Jahrhundert

Die Bilder von Heinrich Harder kreierten eine urweltliche Landschaft, die stark an koloniale Landschaften des frühen 20. Jahrhundert erinnerte. Zusammen mit den Beschreibungen von Wilhelm Bölsche sollten die Bilder aber auch darwinistische Vorstellungen verdeutlichen und so indirekt sozialdarwinistische und genozidale Entwicklungen in Bezug auf indigene Bevölkerungsgruppen in den Kolonien erläutern. Die Sammelkarten behielten auch nachdem Ideen von „verschwindenden Rassen“ obsolet geworden waren ihren Einfluss. Das Medium Sammelkarten verlor im Laufe des 20. Jahrhunderts an Bedeutung und nur eine begrenzte Anzahl zirkuliert noch durch die Hände von Sammlern und Enthusiasten. Die Bilder von Harder hingegen wurden in den 1960er Jahren von den Beschreibungen von Bölsche getrennt und vermehrt im Zusammenhang mit der Vorstellung einer menschlichen Ursache für das Aussterben der pleistozänen Megafauna gebraucht – des sogenannten „Pleistocene Overkill“. Durch die Beschuldigung der indigenen Bevölkerung in diesem Rahmen gewannen die Artefakte eine neue Bedeutung.

 

Eine “amerikanische” Frühgeschichte in Tiere der Urwelt?

Bölsche’s und Harder’s Auslegung Darwins kann nicht nur auf spezifische Räume bezogen werden. Vielmehr ging es um die Entwicklung eines übergreifenden und universellen Erklärungsansatzes für die ganze Welt. Dementsprechend erwähnen einige Sammelkarten keine Verbreitungsgebiete – insbesondere bei Meeres- und Flugtieren – und überlassen es dem Nutzer der Sammelkarte die Tiere geographisch zuzuordnen. Die örtliche Zuweisung von Landtieren ist sehr viel spezifischer.

12 von 30 Tieren haben – über den Verbreitungsraum oder archäologische Funde –  einen direkten Bezug zu Amerika. Mythen und Sagen der indigenen oder lokalen Bevölkerungen spielen auch eine Rolle bei der Lokalisierung, allerdings nur um bereits bestehende archäologische Funde zu bestätigen. Die häufige Erwähnung Amerikas muss hier als Teil eines Gesamtkonzepts gesehen werden, das den kolonialen Räumen wie Ozeanien, Südostasien, Afrika oder Nord- und Ostrussland eine große Bedeutung beimisst. In Zusammenhang mit wiederholten Erwähnungen von deutschen Gegenden als Fundort von archäologischen Artefakten entsteht ein Bild, das koloniale Ideen von einem Zentrum-Peripherie Gefälle nachvollzieht. Prähistorische Tiere, so suggerieren die Sammelkarten, sind im ‚zivilisierten‘ Deutschland und Europa längst ausgestorben, während sie in der ‚unzivilisierten‘ Peripherie, den Kolonien, zum Teil noch sehr lebendig sind beziehungsweise oft von den europäischen Siedlern gerade ausgerottet werden. Diese Konstruktion spiegelt nicht nur den Informationsweg der Erschaffer (von den Kolonien bis zu Bölsche und Harder ins preußische Zentrum Berlin) wider, sondern fördert die Vorstellung das Kolonien – und hier besonders Inseln wie Neuseeland, Australien und auch Amerika – als geschlossene Räume, in denen die Vergangenheit „stecken geblieben“ ist.

Der Wert der Sammelkarten liegt also weniger in der Konstruktion einer “amerikanischen” Frühgeschichte als in der Integration der amerikanischen Vergangenheit in eine darwinistische, kolonialistische, und weltgeschichtliche Vorstellung, die wiederum Auswirkungen auf die diskursive Verortung Amerikas hatte. Diese Dynamik änderte sich mit der Loslösung der Abbildungen Harders von den Texten Bölsches am Ende des 20. Jahrhunderts. Die folgenden 3 Artikel vermitteln Einblicke in die faszinierende Geschichte eines Artefakts mit unterschiedlichen Auswirkungen für die Konstruktion einer „amerikanischen“ Frühgeschichte.

 

Weiterlesen in der Tiere der Urwelt-Trilogie:

Teil 1 - Tiere der Urwelt: (Sozial)darwinismus und Kolonialismus

Teil 2 -Tiere der Urwelt: Die Erschaffung einer ‘prähistorischen’ Landschaft

Teil 3 -Tiere der Urwelt: Harder’s Illustrations, Wikipedia & the “Pleistocene Overkill”

 

WEITERFÜHRENDE LITERATUR

Victoria E. M. Cain, “’The Direct Medium of the Vision’: Visual Education, Virtual Witnessing and the Prehistoric Past at the American Museum of Natural History, 1890-1923.” Journal of Visual Culture 9.3 (2010), S. 284-303.

Stephanie Moser & Clive Gamble, “Revolutionary Images: The Iconic Vocabulary for Representing Human Antiquity.“ In: Molyneaux, Brian L. (Ed.). The Cultural Life of Images: Visual Representation in Archaeology. London & New York: Routledge, 1997, S. 184-212.

Philipp Sarasin, “”Zäsuren biologischen Typs”: der Kampf ums Überleben bei Wilhelm Bölsche, H. G. Wells und Steven Spielberg“. In: Schramm, Helmar & Schwarte, Ludger & Lazardzig, Jan (Eds.). Spuren der Avantgarde: Theatrum anatomicum: frühe Neuzeit und Modern im Kulturvergleich. Berlin: Walter de Gruyter, 2011, S. 443-459.

Joachim Zeller, Bilderschule der Herrenmenschen: Koloniale Reklamesammelbilder. Berlin: Links, 2008.

Joachim. Zeller, “Harmless “Kolonialbiedermeier”? Colonial and Exotic Trading Cards.” In: Langbehn, Volker (Ed.). German Colonialism, Visual Culture, and Modern Memory. New York: Routledge, 2010, S. 71-86.

 

ABBILDUNGSVERZEICHNIS

Abbildung 1: Theodor Reichardt Kakao Compagnie, Hamburg; Quelle: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Reichardt-Kakao-Werk.jpg; Zugriff am 27.03.2016.

Abbildung 2: Vorderseite (recto) von Sammelkarte Nr. 2 aus Tiere der Urwelt. Quelle: Tiere der Urwelt: Rekonstruktionen nach verschiedenen wissenschaftlichen Vorlagen. Wandsbek-Hamburg: Verl. der Kakao Compagnie Theodor Reichhardt, ca. 1900. diglib.bis.uni-oldenburg.de/retrodig/buch.php; Zugriff am 27.03.2016.

Abbildung 3: Rückseite (verso) von Sammelkarte Nr. 2 aus Tiere der Urwelt. Quelle: Tiere der Urwelt: Rekonstruktionen nach verschiedenen wissenschaftlichen Vorlagen. Wandsbek-Hamburg: Verl. der Kakao Compagnie Theodor Reichhardt, ca. 1900. diglib.bis.uni-oldenburg.de/retrodig/buch.php; Zugriff am 27.03.2016.