'Tiere der Urwelt': (Sozial)darwinismus und Kolonialismus

von Alexander Bräuer, 27.03.2016.

Zusammenfassung

Visuelle Darstellungen (der Urzeit) spielen zunehmend eine wichtige Rolle in unserer Gesellschaft. Filme wie Jurassic Park, Ice Age oder 10,000 BC haben unsere Vorstellungen von einer Urzeit grundlegend verändert. Deutschland erlebte im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert den Aufstieg eines anderen visuellen Mediums. Sammelkarten verbanden Abbildungen auf der Vorderseite mit einem kurzen, informativen Text auf der Rückseite. Sie waren Werbegeschenke als Beilage von Kolonialwaren wie Schokolade, Kaffee, oder Tabak. Die Karten warben somit nicht nur für die Kolonien, sondern gaben auch vorm einer breiten Masse der Bevölkerung neueste wissenschaftliche Kenntnisse zu vermitteln.  Die Sammelkartenserie Tiere der Urwelt zum Beispiel verband kolonialistisches Gedankengut und Ideen des (Sozial)Darwinismus mit einer Vorstellung der Urwelt. Wie wurde diese Verbindung hergestellt und welche kolonialistischen und sozialdarwinistischen Ideen ließen sich besonders gut mit der Konstruktion einer Urwelt verbinden? Wieso konnten Sammelkarten dadurch letztendlich zu einem Mittel werden, um den Genozid an indigenen Bevölkerungen in den Kolonien zu rechtfertigen? Der folgende Artikel wird diese Fragen in Bezug auf die Sammelkartenserie Tiere der Urwelt diskutieren.

Der Maler Heinrich Harder aus Putzar, Vorpommern, entwickelte sich am Anfang des 20. Jahrhunderts in Deutschland zu einer der einflussreichsten Persönlichkeiten für die Erschaffung einer bildlichen Vorstellung der Urgeschichte. Harder illustrierte diverse Publikationen von Wilhelm Bölsche, wie zum Beispiel Artikel in der populären Zeitschrift Die Gartenlaube, Kinder- und Sachbücher, sowie die Sammelkartenserie Tiere der Urwelt. Sammelkarten kombinierten in der Regel informative, ästhetische, exotische, humorvolle oder werbende Abbildungen auf der Vorderseite mit einem informativen Text auf der Rückseite und waren ein beliebtes Medium um zur Bildung der breiten Bevölkerung in Deutschland beizutragen. Sie wurden jedoch auch als Werbemaßnahme oder für die Propagierung eines kolonialistischen Weltbildes eingesetzt. Die Sammelkartenserie von Bölsche und Harder zeigt und erklärte Tiere aus der Urzeit in ihrer natürlichen Umgebung. Diese wird auf verschiedenen Kontinenten verortet und enthält in zwei Fällen auch die Darstellung von prähistorischen Menschen. Im folgenden Artikel soll die Sammelkartenserie Tiere der Urwelt auf das Zusammenspiel zwischen einer populären darwinistischen Weltanschauung, kolonialistischen Geschichtsvorstellungen und der Konstruktion einer (amerikanischen) Urgeschichte untersucht werden.

 

Sammelkarten in Deutschland

In den 1860er Jahren begann der Kölner Schokoladenhersteller Stollwerck die wohl berühmtesten Sammelkarten seiner Zeit zu produzieren. Seitdem standen Sammelkarten und koloniale Produkte in einer engen Beziehung, die wesentlich zur Verbreitung von kolonialistischem Gedankengut in der deutschen Bevölkerung beitrug. So enthielten Sammelkarten oft nicht nur Informationen über die kolonialen Produkte selbst, sondern auch über ihre Herstellung, die Kolonien ihrer Herkunft, und deren indigene Bevölkerung. Kolonialismus konnte damit – durch den Konsum der Produkte und Sammelkarten – selbst erlebt und in den deutschen Alltag integriert werden. Die Sammelkartenserie Tiere der Urwelt wurde von der Theodore Reichardt Kakao-Kompanie in Wandsbek, Hamburg, einem der größten Schokoladenhersteller der Welt, herausgegeben. Sie bestand aus drei Reihen (Ia, II und III), die jeweils 20 verschiedene Karten beinhalteten. Die Reihen Ia und III wurden von Heinrich Harder illustriert, die Reihe II von F. John. Für alle drei Reihen lieferte Wilhelm Bölsche die Texte.

Abbildung 1: Wilhelm Bölsche. Portrait des bekannten deutschen Autors. Die Bücher und Texte von Bölsche gehörten zu den meistgelesenen seiner Zeit.

Dieser Artikel wird sich auf die Reihe Ia konzentrieren, die circa zwischen 1900 und 1916 produziert wurde und 30 kolorierte Abbildungen im Format 19,6 x 27,4 cm enthielt. Jede Sammelkarte hatte eine chromolithografische Abbildung von einem Tier auf der Vorderseite und einen Text mit erläuternden Informationen auf der Rückseite. Die Karten konnten in einem Sammelheft, das von der Kakao-Kompanie produziert wurde, zusammengeführt werden.

Die Vorderseite der Sammelkarten wurde von den Illustrationen von Heinrich Harder dominiert, die die Tiere in ihrer ursprünglichen Umgebung darstellen sollten. Der Name des abgebildeten Tieres wurde unter der Illustration angegeben. Die Illustrationen von Heinrich Harder wurden sowohl von seiner Ausbildung als Landschaftsmaler und als auch früheren Darstellungen einer Urwelt von anderen Künstlern, wie Eugen Bracht, beeinflusst. Daher konnten die Illustrationen bereits auf existierende Darstellungsformen der Urwelt zurückgreifen und diese mithilfe der Sammelkarten einer breiten Öffentlichkeit zugänglich machen. Nachdem der Konsument die Vorderseite der Sammelkarte betrachtet hatte, wurden ihm auf der Rückseite zusätzliche Information geboten rund um Themen wie Tierbeschreibungen, Evolution, Lebensraum, berühmte Fundorte von Fossilien, Fabeln, Mythen und wissenschaftliche Auseinandersetzungen. Sieben der 30 Tiere wurden dezidiert auf dem nordamerikanischen Kontinent verortet.

 

Darwinismus in Tiere der Urwelt

Das Zusammenspiel zwischen Abbildung und Text spielt eine entscheidende Rolle für die Darstellung darwinistischer Ideen in Tiere der Urwelt. Dabei ist die Verwendung der Evolution als Erklärungsmodell für das Aussterben verschiedener Tierarten wenig überraschend, da Wilhelm Bölsche seinerzeit als ein führender Vertreter darwinistischer Ideen in der deutschen Öffentlichkeit bekannt war.[1]

Abbildung 2: Vorderseite von Sammelkarte “9) Das Dinoceras: ein vorweltliches Huftier mit sechs Hörnern.” Bölsche beschreibt den Kopfschmuck des Dinoceras als überflüssig und bescheinigt dem Tier einen einfältigen Charakter.

In der Sammelkarte Nr. 9 erläutert Bölsche, dass das Dinoceras (heute „Uintatherium) aufgrund seines Kopfschmucks von geringerer Intelligenz als das Nashorn oder der Stier sei. Heinrich Harder unterstützt dieses Argument in seiner Abbildung des Tieres. Das Dinoceras bekommt einen einfältigen Blick und der Kopfschmuck wird übertrieben dargestellt. Bölsche erklärt weiterhin die Gründe für die Ausrottung des Tieres: „Man wird annehmen dürfen, daß es längere Zeit in einer Art „Asyl“ lebte, einer futterreichen Gegend, in der es an großen Angreifern fehlte, …“. Für Bölsche wird „Asyl“ oder das sogenannte „Asyltier“ zu einem wiederkehrenden Topos für die Erläuterung der (zukünftigen) Ausrottung einer ganzen Anzahl von (‚prähistorischen‘) Tierarten, die insbesondere in Gegenden leb(t)en, die kürzlich von Menschen besiedelt wurden. Siedlungskolonien wie Australien, Neuseeland und Amerika werden immer wieder genannt (siehe zum Beispiel Sammelkarten Nr. 3; Nr. 22; Nr. 30). Dabei wird die als „unaufhaltsam“ dargestellte Ausrottung der Tierarten mit der ebenfalls konstatierten ‚moralischen Degeneration‘ der Tiere begründet. Sie werden als „sorglos“, „harmlos“ und „untätig“ beschrieben und dargestellt.[2] Dieses Narrativ konnte leicht in ein sozialdarwinistisches Weltbild integriert werden, in dem ‚verschwindende‘ indigene Bevölkerungen wie die amerikanischen Ureinwohner mit einem ähnlichen Vokabular beschrieben wurden. Beide Narrative, dass über das Aussterben der Tiere der Urwelt und das ‚Verschwinden‘ der indigenen Bevölkerungen, wurden auf eine ähnliche Ursache – die moralischen Verfehlungen der betroffenen Tiere/Menschen – reduziert und verstärkten sich gegenseitig.

 

Wissenschaft in Tiere der Urwelt

Die moderne Wissenschaft spielt eine wichtige Rolle bei der Verknüpfung von Kolonialismus und ‘prähistorischen’ Tieren zu einem darwinistischen Weltbild. Dabei erwähnt Bölsche in einigen Fällen auch die direkten Profite von Kolonien für die Aneignung von Wissen über die Urwelt durch die Funde von Fossilien (siehe zum Beispiel die Sammelkarte Nr. 17: „Das Mammut“). Allerdings ergeben sich aus den Texten Bölsches, die von den Abbildungen Harders unterstützt werden, zwei strukturelle Aufgaben der modernen Wissenschaften im zeitgenössischen Diskurs über ‚prähistorische‘ Tiere. Erstens, bildete Harder zwei Tierarten zusammen mit menschlichen Jägern ab (siehe Sammelkarte Nr. 1 „Riesengürteltier“ und Nr. 3 „Moa-Vögel“). Bölsche erweitert diese Perspektive, indem er in mehreren der Texten auf eine mögliche Koexistenz von menschlichem Leben und den Tieren hinweist. Dabei werden wiederholt Sagen, Legenden und „dunkle Volkstraditionen“ der lokalen und indigenen Bevölkerungen als Anhaltspunkt für weitere Informationen über die Tierarten genannt. Diese Bezüge werden allerdings nur relevant, wenn die mögliche Koexistenz durch die moderne Wissenschaft – i.e. Funde von Fossilien durch die Archäologie – nachgewiesen wurde. Andernfalls seien die mündlichen Traditionen nutzlos (siehe zum Beispiel Sammelkarte Nr. 2 „Riesenfaultier“ und Nr. 4 „Das Einhorn Elasmotherium“). Dadurch etabliert Bölsche die Deutungshoheit der modernen Wissenschaft gegenüber indigenen oder lokalen Wissensformen über ‚prähistorische‘ Tiere, selbst wenn diese mündlichen Traditionen in der Lage waren substantielle Informationen über hunderte oder tausende von Jahren weiterzugeben.

Die zweite Aufgabe der Wissenschaft war der gezielte Eingriff in den Prozess der natürlichen Auslese zum Schutz bestimmter Tierarten. Interessanterweise waren nicht alle Tiere der Urwelt um 1900 bereits ausgestorben.

Abbildung 3: Vorderseite der Sammelkarte “22) Der Wisent (Bison bonasus oder europaeus)“. Für Bölsche und Harder repräsentierte der Wisent ein Tier der Urwelt, das auf der „Grenze von Lebend und Ausgestorben“ existierte.

Einige, wie zum Beispiel der Wisent, waren laut Bölsche “ein Tier auf der Grenze von Lebend und Ausgestorben”. Er argumentiert, dass obwohl Menschen bereits einen Großteil der Population dieser Tiere vernichtet hätten, der modernen Wissenschaft mit ihrem überlegenen Erkenntnisstand nun die Aufgabe zufallen würde, die Restbestände zu schützen (siehe zum Beispiel Sammelkarte Nr. 30). Dabei wäre eine komplette Erholung der Bestände und damit die Rettung der Tierarten nicht möglich, weil der evolutionäre Prozess der natürlichen Selektion letztendlich nicht aufzuhalten sei. Der Schutz und das verlängerte Überleben dieser Arten diene der Sammlung von Wissen über die Tiere und solle die Menschen an ihre Verantwortung als Gewinner der Evolution erinnern. Während dieser künstlichen Lebensverlängerung würden die Tierarten allerdings unweigerlich degenerieren und letztendlich aussterben. Der vorübergehende Schutz dieser Tierarten wird dadurch zu einem weiteren Schritt in die Richtung des unaufhaltsamen Aussterbens der Tiere der Urwelt. ‚Urwelt‘ ist hier also nicht unbedingt nur als zeitliche Einordnung zu verstehen, sondern vielmehr als Ausdruck seiner prognostizierten Überlebensfähigkeit in der Zukunft. Die Konservierung der Tierkadaver in Museen nach dem Aussterben der Tierarten zum Nutzen der Gesellschaft und Wissenschaft ist, laut Bölsche, der letzte Schritt für die Tiere der Urwelt (siehe unter anderem Sammelkarte Nr. 22). Für den Schutz der betroffenen Tierarten sei ferner die Errichtung von Schutzzonen und Reservaten notwendig. Diese Argumentation war ein bedeutender Grund für die Errichtung von Nationalparks um 1900. Des Weiteren konnte die Argumentation – ähnlich wie die historische Umdeutung von Darwins Evolutionstheorie – auf die Situation der zeitgenössischen amerikanischen Ureinwohner übertragen werden. Obwohl sie als ‚verschwindende Rasse‘ gebrandmarkt wurden, sollte durch einen Schutz in ausgesuchten Reservaten – welche wiederum auch nur zu Degeneration der Rasse führen können – so viel Wissen wie möglich über die verschwindenden Kulturen angehäuft werden. Zeitgenössische Diskurse über nordamerikanische Indianer und ‚prähistorische‘ Tierarten konnten waren im sozialdarwinistischen Weltbild eng miteinander verbunden.

Für die deutsche Öffentlichkeit des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert muss die Botschaft unmissverständlich gewesen sein: das ‚Verschwinden‘ indigener Bevölkerungen und die Ausrottung bestimmter Tierarten sind zwei Seiten derselben Medaille und lassen sich nicht aufhalten. Die Verantwortung für das Aussterben ist vielmehr bei den Tierarten oder der indigenen Bevölkerung zu suchen. Die Rolle der Wissenschaft sei, diese Entwicklung zu begleiten, zu dokumentieren und der Öffentlichkeit zu erläutern.

 

LITERATURNACHWEISE

[1] Sarasin, Philipp. “”Zäsuren biologischen Typs”: der Kampf ums Überleben bei Wilhelm Bölsche, H. G. Wells und Steven Spielberg“. In: Schramm, Helmar & Schwarte, Ludger & Lazardzig, Jan (Eds.). Spuren der Avantgarde: Theatrum anatomicum: frühe Neuzeit und Modern im Kulturvergleich. Berlin: Walter de Gruyter, 2011, S. 443-459, S. 447.

[2] Alle Zitate stammen von Sammelkarte Nummer 30. Dort erläutert Bölsche seine Vorstellungen von einem „Asyltier“ am Beispiel der Leguatia gigantean, einer ausgestorbenen Vogelart auf Mauritius. Aus heutiger Sicht ist die Existenz der Vogelart umstritten. Inseln und andere isolierte Lebensräume bilden, laut Bölsche, die Grundlage für die Entwicklung eines „Asyltiers“.

 

ABBILDUNGSVERZEICHNIS

Abbildung 1: Wilhelm Bölsche. Quelle: https://en.wikipedia.org/wiki/Wilhelm_B%C3%B6lsche; Zugriff am 23.03.2016.

Abbildung 2: Vorderseite der Sammelkarte Nummer 9. Quelle: Tiere der Urwelt: Rekonstruktionen nach verschiedenen wissenschaftlichen Vorlagen. Wandsbek-Hamburg: Verl. der Kakao Compagnie Theodor Reichhardt, ca. 1900. diglib.bis.uni-oldenburg.de/retrodig/buch.php; Zugriff am 27.03.2016.

Abbildung 3: Vorderseite der Sammelkarte “22) Der Wisent (Bison bonasus oder europaeus): ein Tier auf der Grenze von Lebend und Ausgestorben.“ Quelle: Tiere der Urwelt: Rekonstruktionen nach verschiedenen wissenschaftlichen Vorlagen. Wandsbek-Hamburg: Verl. der Kakao Compagnie Theodor Reichhardt, ca. 1900. diglib.bis.uni-oldenburg.de/retrodig/buch.php; Zugriff am 27.03.2016.