Peter Wilhelm Lund

von Gesa Mackenthun, 01.03.2016.

Zusammenfassung

Im Jahr 1843 entdeckte der im brasilianischen Exil in Vergessenheit geratene dänische Wissenschaftler Peter Wilhelm Lund versteinerte menschliche Knochen zwischen den Skeletten ausgestorbener Tiere in einer Höhle in der Provinz Minas Gerais. Durch diese Entdeckung schlussfolgerte Lund, dass die Präsenz der Menschheit in Amerika viel weiter zurückliegen musste als bisher angenommen. Lunds Annahme ließ sich jedoch schwer mit der biblischen Schöpfungsgeschichte vereinbaren, laut der die Erde nicht älter als 6000 Jahre ist. Aufgrund seiner peripheren wissenschaftlichen Position und der kontroversen Bedeutung seiner Entdeckung erhielt Lunds wissenschaftlicher Beitrag nicht die Beachtung, die er verdient hätte. Aus vielen Gründen, aber wahrscheinlich hauptsächlich aufgrund einer intellektuellen Krise und finanzieller Schwierigkeiten, stellte Lund die Forschung in den Höhlen kurz nach seiner Entdeckung ein. Er blieb in Brasilien, wo er die vielen Jahre bis zu seinem Tod botanisierend verbrachte. Bis heute bleibt er jedoch als ein lokaler Held in Minas Gerais in Erinnerung. Warum wurde Lund zu Unrecht aus den Annalen der Wissenschaft verbannt? Warum ist er nie nach Europa zurückgekehrt? Warum hat er seine aufregenden Forschungen zu den versteinerten Skeletten komplett eingestellt?

Eine spektakuläre Entdeckung?

Der dänische Naturforscher Peter Wilhelm Lund (Abb. 1) untersuchte im Jahre 1843 ein umfangreiches Höhlensystem in Lagoa Santa, einer Region im brasilianischen Distrikt Minas Gerais, und machte dabei eine erstaunliche Entdeckung.

Abb. 1: Portrait von Peter Wilhelm Lund (1801-88).

Zwischen den Skeletten ausgestorbener Säugetiere, wie z.B. denen eines Säbelzahntigers, fand er die versteinerten Knochen von 30 menschlichen Skeletten in einer geologischen Schicht, die er als eiszeitliche Ablagerung (Grundmoräne) identifizierte. Lunds Entdeckung veränderte seine Auffassung von der Erdgeschichte fundamental. Er war ein Schüler des französischen Naturforschers George Cuvier, der mit seiner geologischen Theorie versuchte die wachsenden wissenschaftlichen Erkenntnisse über die Erdzeit mit der biblischen Zeitrechnung zu vereinbaren. Laut dieser Zeitrechnung wurde die Erde am 23. Oktober des Jahres 4004 v. Chr. um 9.30 Uhr erschaffen. Dieses Zeitkonzept war jedoch bereits stark durch wissenschaftliche Schlussfolgerungen aus geologischen Untersuchungen (z.B. Charles Lyells bahnbrechendes Werk Principles of Geology,1830-1833) ins Wanken geraten, als Lund seine Funde analysierte.

Pflichtbewusst meldete Lund seine Entdeckung den brasilianischen Ämtern, ohne dabei jedoch durchblicken zu lassen, welche erkenntnistheoretische Krise er durchlaufen haben musste. Eine französische Zusammenfassung seines Berichts wurde in der dänischen wissenschaftlichen Zeitschrift Memoires de la Société Royale des Antiquitaires du Nord von 1845-1847 in Kopenhagen veröffentlicht. Lund schlussfolgert in seinem Text „Notice sur des ossements humains fossiles, trouvé dans une caverne de Brésil,“ dass der amerikanische Kontinent geologisch betrachtet viel älter sei als bisher angenommen und dass er „seit sehr langer Zeit“ von Menschen bewohnt sein musste. Weiterhin unterstützte seine Entdeckung die Schlussfolgerung, dass das Zeitnarrativ, das bis dato bestand, einer „kompletten Revision“ unterzogen werden müsste (“le renversement total du rapport chronologique qu’on a établi jusqu’a present“).[1]

Lund wäre mit Sicherheit ein berühmter Mann geworden, doch die Zeichen standen gegen ihn und seine Entdeckung. Sein Bericht erschien in einem wenig vorteilhaften intellektuellen Klima; er befand sich in einer geographischen Randlage; und sein Schreibstil war nicht dramatisch genug, um die Explosivität seiner Entdeckung zu vermitteln. Allem voran jedoch war die geologische Zeitauffassung im Jahr 1843 international einfach noch nicht anerkannt. Unter diesen ungünstigen Bedingungen verhallte Lunds Enthüllung über das Alter der Menschheit in Amerika in der wissenschaftlichen Gemeinschaft weitgehend ungehört. Zum Teil trug Lund selbst dazu bei. So sucht man vergeblich nach weiteren Texten, die er zu diesem Thema verfasst hätte. Überdies packte Lund ein Jahr nach seiner Entdeckung alle fossilen Knochen und andere Funde in Überseekisten und verschiffte sie an den dänischen König mit der Bitte, sie als Nachlass für die dänische Bevölkerung zu bewahren.

Er stellte alle weiteren Untersuchungen der Höhlen (Abb. 2 und 3) ein und beschäftigte sich ausschließlich mit Botanik. Lund kehrte nie wieder nach Dänemark zurück, empfing wenige Besucher und verließ Brasilien nicht mehr bis zu seinem Tod im Alter von 79 Jahren.

 

Verlorenes Wissen aus der Peripherie

Was war der Anlass dafür? Der Grund, warum man sich mit Lunds Entdeckung des Alters der Menschheit in der Neuen Welt nur in einer Fußnote wissenschaftlich auseinandersetzte (so wie Charles Darwin in Origin of Species, 1859) bestand darin, dass dessen Erkenntnis bei seinen wissenschaftlichen Kollegen aus Europa und den Vereinigten Staaten noch „undenkbar“ war; es bewegte sich außerhalb der Reichweite des „Wahrheitsregimes“ der westlichen Wissenschaftsgemeinde (um Konzepte von Pierre Bourdieu und Michel Foucault zu verwenden). Lunds Erkenntnis konnte nicht in die zeitgenössische Wissensordnung eingegliedert werden, die zum einen durch die biblische Zeitrechnung und zum anderen durch wissenschaftlichen Rassismus und Schädelkunde bestimmt war. Seine akribischen Beschreibungen der Knochen wurden schnell auf deren kraniologischen Gehalt reduziert, ohne Lunds Überlegungen über das Alter des Sediments und der Knochen zu würdigen.

Jedoch gibt es zwei weitere Gründe, die für sein abruptes Ende der Recherche verantwortlich sein können: Pedro da Luna, ein brasilianischer Wissenschaftler, der Lunds Schriftwechsel mit dessen Kollegen Reinhardt in Europa analysierte, stellt die These auf, dass Lund gesundheitlich in schlechter Verfassung war und ihm zudem schlichtweg das Geld für weitere Untersuchungen der Höhle fehlte.[2] Hier könnte man entgegenhalten, dass er seine wissenschaftlichen Spekulationen selbst ohne Geld und weitere Beweise hätte weiterführen können. Es lohnt sich, einen amerikanischen Bericht über Lunds Entdeckung näher zu betrachten. Der Text gibt an, eine Übersetzung von Lunds Originalbericht zu sein, enthält jedoch zudem Interpretationen seines Autors, des amerikanischen Navy-Kapitäns Isaac G. Strain, der ihn am 7. Dezember 1843 von Rio de Janeiro an die US-amerikanische Zeitschrift Proceedings of the Academy of Natural Sciences in Philadelphia sandte. Im Gegensatz zu Lunds bereits zitiertem französischen Text beinhaltet dieser vielstimmige Text, dessen Autorschaft unklar ist (ein Text, der von Lund geschrieben und von Strain übersetzt und zusammengefasst wurde), eine zeitliche Orientierung bezüglich des Alters der Fossilien. „Das geologische Archiv der Geschichte unseres Planeten,“ können wir hier lesen, fände sich in den Knochenhöhlen in Minas Gerais.[3] Da sich die menschlichen Knochen im gleichen Versteinerungszustand befanden wie die Knochen der ausgestorbenen Säugetiere, schlussfolgerten Lund-Strain, dass sie aus der gleichen Zeit stammten: „Wir nehmen an, dass sie mehr als dreitausend Jahre oder älter sind. Wenn wir diese Belege zulassen, bedeutet dies, dass die brasilianische Bevölkerung aus einer fernen Zeit, zweifellos aus einer vorhistorischen Zeit stammte.“[4] Diese Behauptung steht in klarem Widerspruch zu anderen Aussagen im Text, wie zum Beispiel der Annahme, dass die Tierknochen, die nicht mit denen der lebenden Arten übereinstimmen, „zu einer separaten Schöpfung gehören müssten.“[5] Die Vorstellung  einer „separaten Schöpfung“ war ein wesentliches Element in den Theorien von Georges Cuvier, der bestrebt war, die Geschichte der Erde mit der biblischen Zeitrechnung zu vereinbaren (obwohl die Annahme, dass eine so wichtige Tatsache wie eine separate Schöpfung in der Bibel nicht erwähnt wird, gleichfalls deren Autorität in Frage stellte).

Wir können somit annehmen, dass Lund eine wahrhafte Krise durchlaufen haben musste: bankrott wegen einer verhängnisvollen Spekulation in eine Goldmine (vgl. Luna), erkrankt und verunsichert in seinem wissenschaftlichen und religiösen Glauben. Ihm fehlte jegliche Autorität, um eine ausdrucksstarke theoretische These auf Basis seiner Entdeckung zu verfechten – eine These, die er gegen eine große ablehnende Gemeinschaft hätte verteidigen müssen. Heute löst die Auffassung, dass die Vorfahren der Ureinwohner Amerikas die Neue Welt bereits seit länger als 30.000 Jahren –  d.h. vor der letzten Eiszeit – belebten, heftige Diskussionen in der wissenschaftlichen Gemeinschaft aus.[6] Auf dem Gipfel des Genozids an den amerikanischen Ureinwohnern in den 1840er Jahren, als Lunds Entdeckung bekannt wurde, reichten bereits 3.000 Jahre aus, um unter Wissenschaftlern auf wenig Gegenliebe zu stoßen. Lunds Fund und die daraus abgeleitete Annahme waren sowohl ideologisch als auch politisch unangemessen.

Während Lunds Name nahezu aus den Annalen der Wissenschaft verschwunden ist und man sich heutzutage nur in Minas Gerais und in der Literatur[7] an ihn erinnert, versanken die Knochen der „Menschen von Lagoa Santa,“ die Lund kurz nach seiner Entdeckung in Kisten an den dänischen König sandte, sowie Brandts Gemälde, in den Gewölben der königlichen Sammlung in Kopenhagen, wo sie bis heute erhalten sind.

 

Übersetzung ins Deutsche: Ann-Cathrin Bergmann

 

LITERATURNACHWEISE

[1] Lund, “Notice sur des ossements humains fossils” 77 (Übersetzung G.M.)

[2] Luna, “The Man Who Faced the Saber-Toothed Cat.”

[3] Strain, “Letter from Rio de Janeiro” 12.

[4] Ibid., 13.

[5] Ibid., 12.

[6] Siehe Mann, 1491, und Deloria, Red Earth – White Lies. Siehe auch die neuesten Funde von 18.000 Jahre alten Steinwerkzeugen, die der Archäologe Tom Dillehay in Chile fand: Ann Gibbons, “Oldest stone tools in the Americas claimed in Chile.” Science 18.11.2015. Online. www.sciencemag.org/news/2015/11/oldest-stone-tools-americas-claimed-chile.

[7] Siehe den Roman von Henrik Stangerup.

 

ZITIERTE LITERATUR

Deloria Jr., Vine. Red Earth – White Lies. Native Americans and the Myth of Scientific Fact. Golden, CO: Fulcrum, 1997.

Luna, Pedro da. “The Man Who Faced the Saber-Toothed Cat. Peter Wilhelm Lund’s Forgotten Encounters with the Brazilian Deep Past and the Colonial Present.” Fugitive Knowledge. The Preservation and Loss of Knowledge in Cultural Contact Zones. Ed. Andreas Beer & Gesa Mackenthun. Münster: Waxmann, 2014. 163-79.

Lund, Peter Wilhelm. “Notice sur des ossements humains fossiles, trouvés dans une caverne de Brésil. Extract d’une letter de M. P.-W- Lund a M. C.-C. Rafn, Sécretaire de la Société.” Memoires de la Société Royale des Antiquitaires du Nord. Copenhagen, 1845-47. 49-77.

Mackenthun, Gesa. “Fossils and Immortality. Geological Time and Spiritual Crisis in Nineteenth-Century America.” Deutungsmacht.Religion und Belief Systems in Deutungsmachtkonflikten. Ed. Philipp Stoellger. Tübingen: Mohr Siebeck, 2014. 259-83.

Mann, Charles. 1491. New Revelations on the Americas Before Columbus. New York: Vintage, 2005.

Strain, Isaac G. “Letter from Rio de Janeiro to the Academy of Natural Sciences, Philadelphia, 7 December, 1843.” Proceedings of the Academy of Natural Sciences II, 1 (Februar 1844) 11-14.

 

WEITERFÜHRENDE LITERATUR

Holten, Birgitte & Michael Sterll, Peter Lund e as Grutas com ossos em Lagoa Santa. Belo Horizont, 2011.

Luna, Pedro Ernesto de. Peter Wilhelm Lund: o auge das suas investigações científicas e a razão para o término das suas pesquisas. Universidade de São Paulo, 2007. Online. http://www.teses.usp.br/teses/disponiveis/8/8138/tde-09102007-142632/pt-br.php.

Stangerup, Henrik. Der Weg nach Lagoa Santa. Frankfurt/M: Fischer, 1991. Original: Vejen til Lagoa Santa. Kopenhagen: Gyldendals Bogklub, 1982. Novel.

 

ABBILDUNGSVERZEICHNIS

Abb. 1: Quelle: Birgitte Holten & Michael Sterll, Peter Lund e as Grutas com ossos em Lagoa Santa. Belo Horizont, 2011.

Abb. 2: Quelle: Birgitte Holten & Michael Sterll, Peter Lund e as Grutas com ossos em Lagoa Santa. Belo Horizont, 2011.

Abb. 3: Quelle: Birgitte Holten & Michael Sterll, Peter Lund e as Grutas com ossos em Lagoa Santa. Belo Horizont, 2011.