Die Niagarafälle und die Maid of the Mist

von Alexander Bräuer, 26.01.2019.

Zusammenfassung

In den letzten 150 Jahren hat eine boomende Tourismusindustrie die Maid of the Mist-Legende zur bekanntesten Geschichte der Niagarafälle gemacht. Dabei dient die Geschichte meistens einer exotischen Untermalung des visuellen Erlebnisses und wird nur selten mit der kolonialen Geschichte der Niagarafälle und deren Bedeutung als markanter Ort in Verbindung gebracht. Erst eine genauere Betrachtung der Maid of the Mist enthüllt den fluiden Charakter des Wasserfalls sowie ihre komplexe Entstehungsgeschichte im Rahmen der kolonialen Kontaktsituation zwischen der indigenen Bevölkerung und weißen Siedlern seit dem Anfang des 19. Jahrhunderts. Der Fluss Niagara und die Wasserfälle spielten früh eine wichtige Rolle für den Pelzhandel und wurden im Laufe der Zeit auch immer wichtiger für eine von romantischen Ideen inspirierte Tourismusindustrie, die ihren Höhepunkt wohl in der Beliebtheit der Fälle als Kulisse für Hochzeiten und Flitterwochen gefunden hat. In diesem Zusammenhang bewies auch die Maid of the Mist ihre Vieldeutigkeit, nicht zuletzt ein Beispiel für die Resilienz indigener Kulturen.

Abbildung 1: “The Indian Sacrifice, Niagara Falls, N.Y.” Die “Maid of the Mist”-Geschichte war unter mehreren Namen bekannt. Eine frühe Aufzeichnung von Andrew Burke benutzte zum Beispiel den Namen „Legend of the White Canoes.“ Mit dem zunehmenden Tourismus setzte sich allerdings mehr und mehr die Bezeichnung „Maid of the Mist“ durch. Das Bild der sich in einem Kanu die Wasserfälle herunterstürzenden indianischen Jungfrau wurde zu einem beliebten Motiv für die Tourismusindustrie und fand unter anderem auf Postkarten Verwendung.

Wasserfälle als markante Orte

Wasserwege waren für hunderte von Jahren die bevorzugten Verkehrswege im amerikanischen Nordosten – insbesondere in der Region der Großen Seen, wo große Warenmengen mit Leichtigkeit schnell entlang der Flüsse und Seen transportiert werden konnten. Dies galt sowohl für die indigene Bevölkerung als auch für die europäischen Kolonisatoren. In diesem System aus Wasserwegen besaßen Wasserfälle eine ambivalente Funktion. Einerseits stellten sie physische Barrieren und Hindernisse dar und waren eine Gefahr für den Handel entlang der Flüsse. Die Waren mussten entladen, unter erheblichem Aufwand von Arbeitskräften über Umwege transportiert und wieder zu Wasser gelassen werden. Das Gleiche galt oft genug für die Kanus und Boote. Dabei waren die Händler schwierigen Umweltbedingungen wie Steilhänge, Lärm, hoher Luftfeuchtigkeit und wilden Tieren wie Schlangen ausgesetzt, die sich negativ auf die menschliche Arbeit und Besiedlungen in der Umgebung auswirkten. Andererseits boten Wasserfälle aber auch die Möglichkeit für die lokale Bevölkerung den überregionalen Handel zu kontrollieren und einen Profit zu erwirtschaften. Daher versuchten die Europäischen Invasoren insbesondere diese Orte, inklusive der von der indigenen Bevölkerung etablierten Infrastruktur wie den Umgehungswegen, gezielt zu übernehmen – zum Beispiel durch den Bau von Forts – und so den Handel zu kontrollieren.

Die ökonomische Bedeutung der Wasserfälle bildete sich sowohl in der Kultur der indigenen Einwohner als auch der europäischen Invasoren ab. Wasserfälle waren der Fixpunkt mehrerer indigener Geschichten und spielten in den Reiseberichten der Pelzhändler und in der beginnenden Tourismusindustrie eine wichtige Rolle. Durch ihre ökonomische und kulturelle Bedeutung wurden die Wasserfälle im Nordosten vom Amerika (genauso wie in einigen anderen Regionen, siehe z. B. im Pazifischen Nordwesten) zu wichtigen Orientierungsorten. Die Niagarafälle – auch das „Tor zum Westen“ genannt (Strand, 17) – bildeten als Teil des Niagara-Flusses die Verbindungsstelle zwischen dem Eriesee und dem Ontariosee und waren damit von herausragender strategischer Bedeutung.

Abbildung 2: “Partie occidentale de la Nouvelle France ou Canada” von Jacques Nicolas Bellin. 1755. Die Karte von Bellin verdeutlicht die Vielzahl von Wasserwegen in der Region der Großen Seen. Die Wasserwege waren die Haupthandelswege des französischen Pelzhandels in der Mitte des 18. Jahrhunderts. Die Niagarafälle sind hier als “Sault de Niagara“ dargestellt und die Karte markiert Wasserfälle und Stromschnellen als bedeutende Hindernisse für den Handel.
Abbildung 3: “Saut ou chute d’eau de Niagara, qui se voit entre le Lac Ontario, & le Lac Erié“ von Louis Hennepin. 1689. Eine der frühsten Darstellungen der Niagarafälle stellt die Bedeutung des Ortes als „carrying place“ – am rechten Rand durch die Umgehungsstraße dargestellt – heraus. Die Entdecker – im Vordergrund abgebildet – bieten allerdings bereits einen Einblick in die zukünftige Bedeutung der Wasserfälle, in der die visuelle Erfahrung über eine Vielzahl von Aussichtsplattformen zur dominierenden Aktivität avancierte.
Abbildung 4: “Anthology and bibliography of Niagara Falls, 1920” von Charles Mason Down. Diese Karte aus einem der frühen Geschichtsbücher über die Niagarafälle stellt die Umgehungsstraße aus Abbildung 3 noch deutlicher heraus (markiert durch eine fette Linie und begleitet von speziellen Merkmalen wie Blockhäusern, dargestellt durch Punkte in regelmäßigen Abständen entlang der Route). Militärische Anlagen wie die Forts waren ebenfalls in unmittelbarer Nähe der Umgehungsstraße gelegen, um die Kontrolle über den Handel und den Verkehr auf der Wasserstraße zu gewährleisten. Der Widerstand der indigenen Bevölkerung gegen die kolonialen Invasoren zeigt sich durch ein Symbol welches das Devil’s Hole Massaker, heute bekannt als Schlacht von Devil’s Hole, markiert. In der Schlacht besiegten Seneca-Krieger 1763 eine britische Militäreinheit als Teil des Pontiac-Aufstands. Die indigene Präsenz wird außerdem durch die Darstellung des “Fortress of Kienuka“, eine indigene Festungsanlage auf der so genannten Niagara-Schichtstufe aus der Zeit vor der europäischen Kolonisierung, verdeutlicht.

Eine Einführung in die Geschichte der Niagarafälle

Die Niagarafälle – bestehend aus drei unterschiedlichen Wasserfällen (den Horseshoe Falls, den American Falls und den Bridal Veil Falls) – wurden während der letzten Eiszeit, welche bis vor 10.000 Jahren die Landschaft der Region prägte, geformt. Der Name ‚Niagara‘ lässt sich vermutlich auf die erste indigene Bevölkerungsgruppe in der Gegend, die Neutralen oder auch Onguiaronon („Volk des donnernden Wassers“), zurückverfolgen. Deren Name wurde zuerst von Samuel de Champlain aufgezeichnet und anschließend mit „Nee-ah-guh-ah“ anglisiert (Revie, 2). Über die Onguiaronon ist nur wenig bekannt, sie wurden aber wahrscheinlich in den 1640er und 1650er Jahren von den Seneca, einem Volk der Irokesenliga, vereinnahmt. Die Seneca übernahmen die Kontrolle der Portage (auch „carrying place” genannt) bis diese von den Europäischen Invasoren enteignet wurden.

Die Enteignung der Seneca an den Niagarafällen fand in drei Schritten statt, die drei verschiedenen Empires (und ihrem modus operandi) zugeordnet werden können: dem französischen, dem britischen, und dem amerikanischen. 1678 errichtete das französische Empire ein Fort an der Mündung des Niagara-Flusses am Ontariosee nahe den Niagarafällen, um größeren Einfluss auf den Handel zu erlangen. Dadurch verloren die Seneca zum Beispiel die Möglichkeit gewissen Gruppen den Zugang zur Handelsroute zu verweigern. Allerdings begnügten sich die Franzosen weitestgehend mit einer symbolischen militärischen Ausübung der Macht über die Wasserfälle und die Seneca kontrollierten nach wie vor das Portage-System und damit die ökonomischen Operationen. Im nächsten Schritt verloren die Franzosen Fort Niagara 1759 im Siebenjährigen Krieg an die Briten, welche ein neues Portage-System ohne Rücksicht auf die Bedürfnisse und Erfahrungen der lokalen indigenen Bevölkerung installierten (MacLeitch, 178 & 180). Im letzten Schritt erlangte die USA 1796, 13 Jahre nach dem Ende der Amerikanischen Revolution, Kontrolle über die Region und verdeutlichte in den 1830er Jahren ihren Willen die lokalen Seneca von ihrem Land nach Oklahoma zu deportieren wenn diese nicht eine wirtschaftliche Unabhängigkeit nachweisen konnten. „Wirtschaftliche Unabhängigkeit“ war eine Kategorie, die indigene Bevölkerungen aufgrund der Effekte des Siedlerkolonialismus selten erreichen konnten (Sehdev, 244) und daher wurde zum Beispiel Goat Island, die Insel zwischen den American und Bridal Veil falls, enteignet und an Investoren verkauft, die das Land für den Tourismus nutzen wollten.

Diese drei Schritte umfassten einen Zeitraum von etwa 150 Jahren und wurden vom (immer wieder erfolgreichen) Widerstand der indigenen Bevölkerung begleitet. Diese waren sich des wirtschaftlichen und kulturellen Werts der Niagarafälle bewusst. Die Seneca zum Beispiel kämpften während des Pontiac-Aufstands immer wieder für ihre Rechte den Handel der Niagarafälle zu kontrollieren. Selbst nach der formellen Enteignung durch die USA in den 1830er Jahren und der Umfunktionierung der Wasserfälle in eine Tourismusattraktion blieb die indigene Bevölkerung mit den Niagarafällen verbunden. Der Niagara-Fluss verlor seine Bedeutung für den Handel nachdem der Wellandkanal, der eine direkte Route durch die Niagara-Halbinsel unter Umgehung der Wasserfälle ermöglichte, 1833 eröffnet wurde. Allerdings führte der Bau des Eriekanals nur wenige Jahre vorher in 1817 dazu, dass die Niagarafälle nun viel leichter von den Bevölkerungszentren an der Ostküste, vor allem New York, erreichbar waren (Gassan, 97). Die Wasserfälle entwickelten sich immer mehr zur Touristenattraktion wie wir sie heute kennen. Das sogenannte Zeitalter des Kanalbaus führte also zur Umfunktionierung des Wahrzeichens, zu der neben dem Tourismus auch die Stromproduktion mithilfe riesiger Generatoren am Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts gehörte. Während dieser Umfunktionierung blieb die indigene Bevölkerung in der Region und war unter anderem durch ihre Arbeit in der Tourismusindustrie in der Lage, ihre Verbindung zum Land aufrechtzuerhalten. Der Besuch eines „Indianerdorfs”, Souvenirs aus Perlen und zuletzt indianische Restaurants entwickelten sich zu klassischen Elementen eines Besuchs der Niagarafälle. Die Anwesenheit der indigenen Bevölkerung verschaffte dem touristischen Erlebnis eine besondere Authentizität (Sehdev, 244.). Durch den hier beschrieben Wandel im 19. Jahrhundert änderte sich der Charakter der Niagarafälle als besonderer Ort: die Wasserfälle entwickelten sich zum Zielort der Reise (im Tourismus) anstatt, wie vorher im Pelzhandel, als Transitort zu funktionieren.[1]

 

Die Maid of the Mist

Ein Verständnis der komplexen Geschichte der Niagarafälle ist wichtig, um die Legenden und Geschichten über dieses Wahrzeichen nachvollziehen zu können. Dies gilt insbesondere für die bekannteste Geschichte über die Wasserfälle, die Maid of the Mist, welche mit ihrer Hauptfigur, einer indianischen Jungfrau, ein fester Bestandteil der Tourismusindustrie geworden ist. Im folgenden Text beziehe ich mich auf eine frühe Version der Maid of the Mist, die 1851 in Lewis Henry Morgans Buch League of the Ho-de-no-sau-nee or Iroquois veröffentlicht wurde. Morgan profitierte von seiner Zusammenarbeit mit Ely S. Parker, einem prominenten Mitglied der Seneca. Die Geschichte der Maid of the Mist beginnt mit einer romantischen Figur:

Eine junge Jungfrau, die in Gä’u-gwa, einem Dorf oberhalb der Niagarafälle an der Mündung des Cayuga-Bachs, wohnte, wurde an einen alten Mann mit hässlichen Manieren und unangenehmer Persönlichkeit vermittelt. Da sie die Ehe verabscheute, es aber nach den Bräuchen ihres Volkes kein Entkommen gab, entschloss sie sich zum Selbstmord. Sie ließ ein Rinden-Kanu im Niagara zu Wasser, setzte sich hinein, konzentrierte sich auf den schrecklichen Abgrund, und navigierte ihr Kanu stromabwärts. Die Stromschnellen schwemmten sie schnell über die Wasserfälle, und man konnte das Kanu in den Abgrund stürzen sehen, aber die Jungfrau war verschwunden. Bevor sie die untenliegenden Wasser erreichte, wurde sie in einer Decke von He’-no [der Donnernde] und seinen beiden Gehilfen aufgefangen und ohne Verletzung zum Heim des Donnernden hinter dem Wasserfall getragen. Ihre Schönheit gefiel einem der Angehörigen von He’-no, der die beiden bereitwillig verheiratete.[2] (Morgan, 150)

Der Tropus von der sich opfernden indianischen Jungfrau ist heutzutage der umstrittenste Teil der Geschichte. Indigene Vertreter haben richtigerweise herausgestellt, dass Menschenopfer – hier in Form der sich selbst opfernden Jungfrau – nie Teil der lokalen indigenen Kulturen waren. Stattdessen stellten Menschenopfer ein beliebtes Mittel von kolonialen Repräsentationen indigener Geschichten dar, die die Überlebensfähigkeit der indigenen Bevölkerungen in Frage stellten und damit indirekt die Landenteignungen rechtfertigten.[3] Die Literatur des 19. Jahrhunderts über indigene Kulturen enthält eine Vielzahl von Repräsentationen von indianischen Frauenfiguren – Pocahontas ist das bekannteste Beispiel –, die sich aufgrund von ‚rückständigen‘ Sitten opfern. Diese Darstellungen verstärken den Eindruck von der Unfähigkeit der indigenen Männer ihre Frauen und Familien zu schützen. Der realistische Kern dieser populären kolonialen Mythen geht auf die Rolle von Frauen bei Verhandlungen zwischen verschiedenen indigenen Völkern zurück, in denen sie oft wichtige diplomatische Rollen als Unterhändlerinnen einnahmen. Solche diplomatischen Rollen müssen gerade für die indigenen Kulturen rund um die Niagarafälle, deren Bedeutung auf dem Handel zwischen verschiedenen Stämmen beruhte, von herausragender Wichtigkeit gewesen sein. Daher ist es nicht überraschend, dass die indianische Jungfrau in der Geschichte die Verbindung zwischen dem indianischen Dorf und den mythischen Figuren, die unter den Niagarafällen leben, symbolisiert. Zusätzlich wurde die Gefahr des Wasserfalls (für Händler und Reisende) in die Geschichte integriert – herausgehoben durch den versuchten Selbstmord. Allerdings endet die Geschichte nicht mit der Rettung der Jungfrau durch die mythischen Wesen des Wasserfalls:

Für mehrere Jahre vor diesem Ereignis wurde das Volk in Gä’-u-gwa von einer jährlichen Seuche heimgesucht, und über den Ursprung der Plage wurde wild spekuliert. He’-no enthüllte ihr am Ende des Jahres den Grund, und wegen seines Mitgefühls zu ihrem Stamm schickte er sie zurück zu ihren Leuten, um ihnen den Grund für die Epidemie mitzuteilen und Vorschläge für deren Bekämpfung zu machen. Er erzählte ihr, dass eine monströse Schlange unter dem Dorf wohnt und sich ein jährliches Mahl aus den Körpern der Toten machte, die daneben begraben waren. Um ein reiches Festmahl zu garantieren, kam sie einmal im Jahr heraus und vergiftete das Wasser des Niagara und auch des Cayuga-Bachs, wodurch die Seuche entstand. Der Stamm wurde angewiesen seinen Wohnort zum Buffalo-Bach zu verlegen. He’-no gab ihr ebenfalls sorgsame Anweisungen bezüglich der Erziehung des Kindes, dessen Mutter sie werden würde. Mit diesen Anweisungen ausgestattet ging sie auf ihre Reise. (Morgan, 150-151)

Die folgenden Abschnitte der Geschichte beinhalten mehrere Elemente, die auch heute noch vermutlich von der indigenen Bevölkerung weitererzählt werden. Hier wird die Verbindung zwischen den Niagarafällen und der indigenen Bevölkerung betont. Die Jungfrau wird von He’-no, einem mythischen Wesen, dass unter dem Wasserfall wohnt, über die Gefahr für das indianische Dorf in Form der monströsen Schlange informiert, die nicht nur das Wasser verseucht, sondern auch die Grabstätten verwüstet. Die Schlange bedroht damit auch die Verbindungen des Stammes zu seinem Land. Aufgrund der herausragenden Bedeutung der Niagarafälle für die Kultur der indigenen Bevölkerung ist es nicht erstaunlich, dass dieses Wissen und die Lösung unter dem Wasserfall hervorkommen. Die Verbindung wird zusätzlich durch das Kind verstärkt, das auch eine generationenübergreifende Verbindung zwischen Bevölkerung, der mythischen Welt und dem Wasserfall symbolisiert. Infolgedessen rückt das Schicksal des Kindes und des Dorfes im weiteren Teil der Geschichte in den Vordergrund:

Das Kind der Jungfrau wuchs zum Knaben heran und offenbarte die Fähigkeit ganz nach eigenem Belieben Blitze abzuschießen. Es war die Aufforderung von He‘-no gewesen, dass er in Abgeschiedenheit aufgezogen werden sollte und es ihm nicht erlaubt werden sollte, sich in menschliche Konflikte einzumischen. Eines Tages, als er von einem Spielkameraden mit großer Heftigkeit bedrängt worden war, durchstach er ihn mit einem Blitzschlag. He’-no entrückte ihn unverzüglich in die Wolken und machte ihn zu seinem dritten Donner-Gehilfen. (Morgan, 151)

Allerdings endet die Geschichte nicht mit der ‚Heimholung‘ des aus der Verbindung von menschlicher Jungfrau und Niagarafall hervorgegangenen Kindes. Sie erzählt auch von der weiteren Entwicklung der bedrohlichen Schlange:

Nachdem das Volk wie angewiesen abgezogen war, streckte die große Schlange, enttäuscht vom Nahrungsentzug, ihren Kopf aus dem Boden, um den Grund dafür zu erfahren; sie fand das Dorf verlassen vor. Nachdem sie die Spur ihrer Beute gewittert und ihren Weg entdeckt hatte, ging sie auf der Suche nach ihr zum See und den Buffalo-Bach hinauf. Während sie in diesem engen Kanal war, entlud He’-no einen schrecklichen Blitzschlag auf das Monster, welcher eine tödliche Wunde verursachte. Die Seneca deuten noch heute auf einen Ort im Bach, an dem die Ufer auf beiden Seiten halbkreisförmig sind, als den Punkt, an dem die verletzte Schlange beim Versuch, in die tiefen Wasser des Sees zu entkommen, sich wand und dabei die Ufer auf beiden Seiten herausschob. Bevor es ihr gelang den See zu erreichen, zeigten die wiederholten Angriffe des Donnernden ihre Wirkung und das Monster wurde erlegt. (Morgan, 151)

Hier wird nicht nur die Geschichte einer Auseinandersetzung zwischen der Schlange und He‘-no erzählt. Durch die detaillierte Beschreibung des Kampfes wird zudem eine Erklärung für die Entstehung bestimmter regionaler geographischer Merkmale geliefert. Im nächsten und letzten Teil der Geschichte wird dieser Fokus noch ausgeprägter und konzentriert sich auf die Niagarafälle:

Der große Körper der Schlange trieb stromabwärts und verhakte sich am Rande des Wasserfalls, sich beinahe quer über den Fluss erstreckend. Ein Teil des Körpers wölbte sich rückwärts nahe dem Nordufer in einem Halbkreis. Die tobenden und durch den toten Körper aufgestauten Wasser brachen durch die dahinter liegenden Felsen, wodurch der ganze Rand der Fälle, auf denen der Körper ruhte, zusammen mit diesem in den Abgrund herabstürzte. Auf diese Weise, so sagt die Legende, wurde der Horse-Shoe Fall geformt.

Vor diesem Ereignis gab es einen Durchgang hinter dem Wasserfall von einem Ufer zum anderen. Dieser Durchgangsweg wurde nicht nur aufgebrochen, sondern das Heim des He’-no wurde durch den Absturz ebenfalls zerstört. Seitdem befindet sich seine Wohnstätte im Westen. (Morgan, 151)

Der Absturz/Zusammenbruch der ganzen Kante des Wasserfalls (zusammen mit dem Körper der Schlange) wird ein Hinweis auf einen der regelmäßigen Abbrüche in der Geschichte der Niagarafälle sein. Ein großer Abbruch fand in 1954 statt:

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Heutzutage lässt sich die Existenz einer solchen Passage nicht mehr nachweisen. Allerdings liefert dieser Teil der Geschichte nicht nur eine Erklärung für spezifische geographische Merkmale der Niagarafälle, sondern verweist auch auf die sich ständig verändernde geologische Beschaffenheit der Fälle. Wasserfälle sind im Vergleich zu anderen geologischen Orten (wie Bergen) vergleichsweise instabil. Die konzentrierten, mächtigen Kräfte des Wassers garantieren ständige Veränderungen in relativ kurzer Zeit, welche in die Geschichten inkorporiert beziehungsweise von ihnen erklärt werden mussten.

Abbildung 5: Diese Skizze verdeutlicht die weitreichenden physischen Veränderungen, denen die Niagarafälle in den letzten 2.000 Jahren unterworfen waren. Wasserfälle waren als geologische Orte durch die großen Energiemengen in der Form von riesigen und sich schnell bewegenden Wassermassen ständigen Veränderungen unterworfen. Die „Rainbow Bridge“ wurde 1940 fertiggestellt.

Die Maid of the Mist ist vermutlich nicht die einzige vorkoloniale Geschichte, die sich auf die Schöpfung/Veränderung der Niagarafälle beziehen. Sie muss als Teil eines sich ständig verändernden Netzwerks verschiedener Geschichten über die Wasserfälle gesehen werden. Nicht zuletzt existiert die Maid of the Mist in mehreren Versionen. Dieses Netzwerk war mindestens so flexibel wie die Niagarafälle selbst. Aus verschiedenen Gründen wurde die Geschichte von der Maid of the Mist für Wert befunden an die Siedler weitererzählt zu werden. Diese wiederum fanden sie faszinierend genug, um sie aufzuschreiben. Viele der Hintergründe dieser komplexen Prozesse und Verhandlungen können wir heute nur noch teilweise nachvollziehen. Was bleibt, ist eine Geschichte, die unter anderem Einblicke in die Verbundenheit zwischen dem Wahrzeichen der Niagarafälle und der Lebenswelt der lokalen indigenen Bevölkerung erlaubt.

 

LITERATURNACHWEISE

[1] Dieselbe Entwicklung markiert den Beginn der Bemühungen des „conservation movements“ (Naturschutzbewegung) um die Niagarafälle. Als natürliche Wunder und Touristenziel mussten die Wasserfälle geschützt werden, insbesondere vor ihren eigenen zerstörerischen Kräften.

[2] Alle Übersetzungen von Alexander Bräuer.

[3] Für eine detaillierte Analyse der Maid of the Mist-Geschichte in Verbindung zum Siedlerkolonialismus und mit einem Fokus auf gender siehe die Arbeit von Robinder Sehdev.

 

ZITIERTE LITERATUR

Berton, Pierre. Niagara: A History of the Falls. Toronto: McClelland & Stewart, 1992.

Burke, Andrew. Burke’s Descriptive Guide; or, the Visitors’ Companion to Niagara Falls: Its Strange and Wonderful Localities. Buffalo: Andrew Burke, 1852.

Gassan, Richard Harvey. The Birth of American Tourism: New York, the Hudson Valley, and American Culture, 1790-1830. Amherst: University of Massachusetts Press, 2008.

MacLeitch, Gail. Imperial Entanglements: Iroquois Change and Persistence on the Frontiers of the Empire. Philadelphia: University of Pennsylvania Press, 2011.

Morgan, Lewis H. League of the Ho-De’-No-Sau-Nee or Iroquois. New York: Dodd, Mead and Company, 1922.

Revie, Linda Lee. The Niagara Companion: Explorers, Artists and Writers at the Falls, from Discovery through the Twentieth Century. Waterloo, Ont.: Wilfrid Laurier UP, 2003.

Sehdev, Robinder Kaur. “Beyond the Brink: Indigenous Women’s Agency and the Colonisation of Knowledge in the Maid of the Mist Myth”. Cultural Studies Review 18:3 (2012), S. 240-262.

Strand, Ginger. Inventing Niagara: Beauty, Power, and Lies. New York: Simon & Schuster, 2008.

 

ABBILDUNGSVERZEICHNIS

Abbildung 1: The Miriam and Ira D. Wallach Division of Art, Prints and Photographs: Photography Collection, The New York Public Library. "The Indian Sacrifice, Niagara Falls, N. Y." The New York Public Library Digital Collections. 1898 - 1931. http://digitalcollections.nypl.org/items/510d47d9-9c12-a3d9-e040-e00a18064a99; Zugriff am 26.01.2018.

Abbildung 2: Bellin, Jacques Nicolas. Partie occidentale de la Nouvelle France ou Canada. 1755. https://de.wikipedia.org/wiki/Datei:1755_Bellin_Map_of_the_Great_Lakes_-_Geographicus_-_GreatLakes-bellin-1755.jpg; Zugriff am 24.04.2018.

Abbildung 3: Hennepin, Louis. “Saut ou chute d'eau de Niagara, qui se voit entre le Lac Ontario, & le Lac Erié”. 1689. https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Chutes_du_Niagara_par_Hennepin.tiff; Zugriff am 27.04.2018.

Abbildung 4: Dow, Charles Mason. Anthology and bibliography of Niagara Falls, 1920. https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Anthology_and_bibliography_of_Niagara_Falls_(1921)_(19362442752).jpg; Zugriff am 27.04.2018.

Abbildung 5: Berton, Pierre. Niagara: A History of the Falls, S. 19.