Die Solutréen-Hypothese. Wurde Amerika von Eiszeit-Europäern entdeckt?

von Stefan Krause, 30.03.2018.

Zusammenfassung

Amerika wurde nicht von Europäern entdeckt. Zwar hatten die Wikinger die Küste Neufundlands bereits im zehnten Jahrhundert erreicht und Columbus 1492 amerikanischen Boden berührt, doch die meisten Wissenschaftler sind sich darin einig, dass die ersten Menschen aus Nordostasien über die Beringbrücke nach Amerika kamen, und dann über das Festland oder entlang der Pazifikküste migrierten. Doch was wäre, wenn sich Europäer schon während oder kurz nach der Eiszeit einen Weg nach Amerika gebahnt hätten? Wie würde dies unsere Erzählung über die Entdeckung Amerikas und den Diskurs über indigene Rechte in der westlichen Hemisphäre verändern? Eine kleine Gruppe von Archäologen rund um Dennis Stanford und Bruce Bradley behauptet, dass Menschen aus Europa, die sie „Solutréer“ nennen, den Atlantik eventuell schon vor mehr als 17.000 Jahren überquert und sich in Amerika niedergelassen haben. Ihre ‚Solutrean Hypothesis‘ (Solutréen-Hypothese), die sich hauptsächlich auf Ähnlichkeiten zwischen Steinwerkzeugen stützt, hat einen signifikante akademischen Disput ausgelöst. Dieser Artikel untersucht, was wir aus Debatten über solche ‚alternativen‘ wissenschaftlichen Hypothesen lernen können und wie diese unsere Vorstellung von Amerikas Vergangenheit beeinflussen.

Abb. 1: Arktisches Eis. Glaubt man der Solutréen-Hypothese, überquerten eiszeitliche Europäer den Atlantik, u.a. indem sie von Eisscholle zu Eisscholle wanderten.

Dennis J. Stanford von der Smithsonian Institution und Bruce A. Bradley von der Universität Exeter sind nicht die ersten, die eine mögliche eiszeitliche Besiedlung Amerikas durch Europäer postulieren. Straus, Meltzer und Goebel erwähnen, dass diese Behauptung erstmals im späten 19. Jahrhundert von Charles C. Abbot und den Anhängern des ‚American Paleolithic‘ („Amerikanisches Paläolithikum) (508) aufgestellt wurde. Illustre Persönlichkeiten wie Auguste Le Plongeon, dessen Ideen sich im Kielwasser romantischer Archäologie und des Spiritualismus formten, hatten da bereits einen möglichen Kontakt zwischen den Maya und den alten Ägyptern in der europäischen Antike ins Gespräch gebracht (siehe Desmond). Abbot grub seinerzeit Steinwerkzeuge im Tal des Delaware River aus und sprach den dort entdeckten Artefakten jegliche Verbindung zu den indianischen Völkern Amerikas ab; er konnte sich aber gut vorstellen, dass die Artefakte zu einer alten Rasse amerikanischer Völker der Eiszeit gehörten, die den Menschen des europäischen Paläolithikums sehr ähnelten (Meltzer, 41). Meltzer zufolge wollte Abbot die Geschichte der Menschheit nicht anhand von Darwins Evolutionskonzept erklären, sondern „zog es vor, seine Fakten den europäischen Theorien über die Urgeschichte des Menschen anzupassen“[1] (44). Abbots Argumentation entsprach jedoch schon damals keineswegs der weithin akzeptierten wissenschaftlichen Meinung. Seit Anfang des 19. Jahrhunderts bevorzugten Gelehrte die Theorie einer ursprünglichen menschlichen Besiedlung Amerikas über die Beringstraße aus Asien (Willey und Sabloff, 17). Doch Behauptungen wie die von Abbot bewahrten ihre Beliebtheit. Sie passten hervorragend in das koloniale Weltbild der Archäologen, die (ebenfalls seit dem 19. Jahrhundert) die Mounds des Mississippi als ‚zu komplex‘ einstuften, als dass sie indianischen/indigenen Ursprungs hätten sein können. Stattdessen fabulierten sie, dass die Mounds auf ein nunmehr in Vergessenheit geratenes hochzivilisiertes Volk von ‚Moundbuilders‘ („Mound-Erbauern“) mit möglicherweise jüdischen oder wikingischen Vorfahren zurückgehen. Mit der Jahrhundertwende kamen allerdings neue geologische und archäologische Erkenntnisse; die meisten dieser kuriosen Hypothesen wurden widerlegt. Wie und wann genau die ersten Menschen nach Amerika kamen, wurde jedoch weiterhin fleißig in wissenschaftlichen Debatten diskutiert, wenngleich Forscher gewöhnlich davon ausgingen, dass indianische Völker seit mehreren zehntausend Jahren in Amerika gelebt hatten und dass ihre Vorfahren während einer Eiszeit über die zugefrorene Beringstraße aus Asien einwanderten.

Abb. 2: „Die Pferdejagd von Solutré, nach einer Illustration des ‚Urmenschen‘ von L. Figuier, 1876.“ Das Bild zeigt, wie urgeschichtliche Jäger Pferde über den Fels von Solutré (im heutigen Frankreich) treiben; eine Legende, die durch Adrien Arcelin’s "Roman Solutré ou les chasseurs de rennes de la France centrale" (1872) Berühmtheit erlangte. Ausgrabungen nahe des Felsens im Département Saône-et-Loire haben eine Fülle an Steinwerkzeugen ähnlicher Machart zutage gefördert, die später nach dem Fundort benannt wurden.

 

“Iberien, nicht Sibirien”?

Für Stanford und Bradley ist die Theorie der Besiedlung Amerikas durch Migrationen aus Asien ein wissenschaftliches Dogma, das keinen Raum für alternative Hypothesen lässt. Folgt man ihnen, lassen sich zwischen den ältesten Steinwerkzeugen aus Amerika und denen von der iberischen Halbinsel beeindruckende Ähnlichkeiten feststellen, die von Stanford und Bradley als kulturelle Verbindung gedeutet werden. In der Mitte des 20. Jahrhunderts taten sich die Archäologen Frank C. Hibben und E.F. Greenman mit ähnlichen Behauptungen hervor. Greenman kritisierte die Theorie einer Einwanderung aus Asien, weil es seiner Ansicht nach keinerlei Funde von Steinwerkzeugen in Beringia oder Nordostasien gäbe, die den Speerspitzen des kontinentalen Amerikas ähnelten (41). Stattdessen gewann er folgenden Eindruck:

Charakteristika des Jungpaläolithikums finden sich verstreut auf den gegenüberliegenden Seiten des Atlantiks, entlang des Golfs von Biscaya und in Neufundland. Für die Möglichkeit einer Diffusion zwischen den beiden Gebieten im späten Pleistozän spricht die Gegenwart von Kanus und Kayaks im Jungpaläolithikum in Frankreich und Spanien und Hinweise, dass der Nordatlantik zu dieser Zeit mit Eisschollen verstopft war. (41)

Außerdem gelangte er zu dem Schluss, dass die in Neufundland und anderswo in Nordamerika gefundenen Steinwerkzeuge und Felsmalereien Merkmale des ‚Magdalénien‘, ‚Moustérien‘ und ‚Solutréen‘ aufwiesen. Die meisten von Greenmans Kollegen waren von seiner Hypothese wenig überzeugt, wenngleich viele unter ihnen die Behauptung für ihre Kühnheit lobten und das Anregen der Diskussion über alte Migrationen begrüßten. So schrieb Thor Heyerdahl beispielsweise, dass „viele der von Greenman aufgelisteten kulturellen Parallelen, insbesondere bezüglich der künstlerischen Ausdrucksformen, zu einfach sind um Diffusion zu benötigen“ (73), und dass es eine zeitliche Lücke in seiner Verknüpfung von Steinwerkzeugfunden in der Alten und der Neuen Welt gäbe. Archäologische Funde in den folgenden Jahrzehnten stützten Greenmans These in keiner Weise, bis Stanford und Bradley sich daran machten, die Ähnlichkeiten zwischen den Steinwerkzeugen der amerikanischen Clovis-Kultur und den ‚solutréeischen‘ Steinwerkzeugen aus Frankreich für signifikant zu befinden.

Stanford und Bradley präsentierten ihre Solutréen-Hypothese erstmals im Jahr 1999 auf der Konferenz Clovis and Beyond in Santa Fe, New Mexico. Ihre Hypothese wurde später in der BBC-Dokumentation Stone Age Columbus (2002) und der eher filmischen Dokumentation Ice Age Columbus: Who Were the First Americans? (2005) im Discovery Channel veranschaulicht. Stone Age Columbus zeigt wie Stanford und Bradley Artefakte des Solutréen mit Clovis-Projektilspitzen basierend auf ähnlichen Merkmalen (z.B. Design mit Schneiden auf beiden Seiten der Spitze, Herstellung mittels der Technik des ‚overshot flaking‘, bei dem ein großer Splitter aus dem Stein geschlagen wird, der bis auf die Seite der gegenüberliegende Schneide reicht) verknüpfen. Doch obwohl die beiden Kulturen gemäß der Machart ihrer Werkzeuge scheinbar verknüpft waren, wurden die ‚Solutréer‘ bis dato auf 5.000 Jahre vor der Clovis-Kultur datiert. Diese zeitliche Trennung wurde erstmals angezweifelt, als prä-Clovis Fundstellen wie Cactus Hill und der Meadowcroft Rockshelter noch ältere Artefakte in Amerika zum Vorschein brachten. Wie in Stone Age Columbus gezeigt, grub Archäologe James M. Adovasio Steinwerkzeuge im Meadowcroft Rockshelter aus, die auf ein Alter von mehr als 16.000 Jahren datiert wurden. Bradleys Interpretation zufolge, die in derselben Dokumentation mitgeliefert wird, füllen die Steinwerkzeugfunde dieser Ausgrabungsstellen die Lücke zwischen Clovis-Projektilen und den Steinwerkzeugen des Solutréen.

Nun, da sie eine Verbindung zwischen ‚Solutréern‘ und der Clovis-Kultur postuliert haben, mussten Stanford und Bradley eine Erklärung liefern, wie die ‚Solutréer‘ es fertig brachten, früh genug den Atlantik zu überqueren, um als Vorfahren der Clovis-Kultur betrachtet werden zu können. In Stone Age Columbus reist Stanford nach Barrow in Alaska um die traditionellen Methoden der Seefahrt unter den Iñupiat Eskimo zu studieren. Er kommt zu dem Schluss, dass die ‚Solutréer‘ in Anbetracht der arktischen Bedingungen des eiszeitlichen Atlantiks selbigen wohl überqueren konnten, wenn sie sich ähnlicher Mittel bedient haben, wie sie traditionell von den Iñupiat verwendet werden. Folgt man diesem Argument, ist die Besiedlung Amerikas durch ‚Solutréer‘ möglich, doch das bedeutet keineswegs, dass dies auch wahrscheinlich ist. Die Solutréen-Hypothese fachte schon bald hitzige Debatten an. Auf der einen Seite standen Theorien, die eine Verbreitung kulturellen Wissens aus Europa/Mittelmeerraum nach Amerika propagieren (z.B. Chachapoyas). Dem gegenüber standen Theorien, die in diesen Fällen von einer parallelen und unabhängigen Erfindung von Technologien ausgehen. Des Weiteren kamen Kontroversen darüber auf, ob eine Hypothese so lange als tragbar (oder gar korrekt) betrachtet werden soll, bis sie widerlegt wird.

 

Eine Schlacht unter Wissenschaftlern

Kaum stand die Solutréen-Hypothese zur Diskussion, da formulierten die ersten Skeptiker ihre Zweifel. Lawrence G. Straus war einer der ersten unter ihnen, der heftige Kritik an der neuen Behauptung äußerte. Straus stellte klar, dass die Ähnlichkeiten zwischen Clovis und ‚Solutré‘-Steinwerkzeugen nicht so beeindruckend sind, als dass „man sie nicht einfach auf unabhängiges Erfinden zurückführen könnte“ (221). Er betonte weiterhin, dass die tragbaren Kunstobjekte und Malerien der ‚Solutréer‘ sich nirgendwo in Amerika finden ließen. Abschließend fasste er zusammen: „Anerkennung sollte denen zugestanden werden, denen sie zusteht: indianische Völker, von diversen asiatischen Populationen abstammend, sind die Urheber der Clovis und ‚prä-Clovis‘ Steinobjekte“ (224). Im Gegenzug sammelten Stanford und Bradley weitere Hinweise, um auf Kritiker wie Straus zu reagieren. Sie verwiesen auf weitere Entdeckungen von prä-Clovis Fundstellen und gaben eine detailliertere Auflistung aller ähnlichen Merkmale zwischen ‚solutréeischen‘ und urgeschichtlichen amerikanischen Steinwerkzeugen. Darüber hinaus vertreten Stanford und Bradley offensichtlich die Idee, dass das Nichtvorhandensein an Beweisen kein Beweis für das Nichtvorhandensein ist. Ihrer Argumentation zufolge gibt es für die Hypothese der Migration aus Asien ebenfalls keine archäologischen Beweise (d.h. Steinwerkzeuge und andere materielle Beweisstücke), weshalb „die Hypothese, dass eine maritime Solutré-Kultur des Paläolithikums den Weg für die prä-Clovis und Clovis-Technologien bereitete, vom Status einer  totgeweihten Spekulation zu einer sehr brauchbaren Forschungsthese erhoben werden sollte“ (Stanford und Bradley, 2004: 473). Doch trotz der vermeintlichen Plausibilität ihrer Behauptung blieb die Solutréen-Hypothese ein wissenschaftliches Randkonzept. Eine Schwachstelle in ihrer Argumentation ist der ausschließliche Fokus auf Steinwerkzeuge als akzeptable historische Beweise.

2005 veröffentlichten Lawrence Straus, David Meltzer und Ted Goebel eine weitere kritische Besprechung der Solutréen-Idee. Darin bekunden sie ihre Bereitschaft den transatlantischen Ursprung der ersten Amerikaner zu überprüfen, bleiben jedoch weiterhin skeptisch gegenüber dem gewaltigen zeitlichen und räumlichen Abstand zwischen ‚Solutréern‘ und der Clovis/prä-Clovis-Technologie. Die drei Archäologen folgten Stanfords und Bradleys Herangehensweise und konzentrierten sich auf Steinwerkzeugfunde, welche nebst vieler anderer Probleme offenbarten, dass Clovis-Projektilspitzen „kanneliert“ sind und Solutréen-Artefakte nicht (513). Das heißt, dass diese Projektilspitzen am Schaftende eine Art Rinne oder Vertiefung aufweisen. Straus, Meltzer und Goebel erinnern uns außerdem daran, dass die Theorie über die Erstbesiedlung über die Beringbrücke durch die genetische Beweislage und die geografisch leichter zu bewältigende Route unterstützt wird, wohingegen die ‚Solutréer‘ nach ihrer Ankunft in Amerika neben einer kompletten „kulturellen Amnesie“ auch von einer „genetischen Amnesie“ befallen worden sein müssten, denn von ihrer ursprünglichen Lebensweise fand sich in der Clovis-Kultur nichts wider (522). Im Jahr darauf konterten Stanford und Bradley mit einer direkten Reaktion auf diesen Artikel. In ihrer Antwort wiesen sie die Kritik zurück, dass die ‚Solutréen‘-Kultur sich stärker in der Clovis-Kultur insgesamt widerspiegeln müsse, nicht nur in vereinzelten Steinwerkzeugen (2006, 705). Sie versuchen ihre Hypothese über die mögliche Atlantiküberüberquerung der ‚Solutréer‘ mit weiteren Argumenten und Parallelen zwischen den Steinwerkzeugen zu stützen. Obwohl sie sich enormer Lücken in ihrer Argumentation bewusst sind, wollen sie sich nicht von ihrer Behauptung distanzieren und fordern, „neue Theorien zu entwickeln und Wege zu finden diese zu testen, ohne davon auszugehen, dass alles ursprünglich Amerikanische nordostasiatischen Ursprungs sein müsse“ (2006, 706).

Stanford und Bradley führten ihre Arbeit fort und veröffentlichten 2012 schließlich einen ganzen Band zur Solutréen-Hypothese. In Across Atlantic Ice: The Origin of America’s Clovis Culture versammeln sie die Hinweise, die sie in den Jahren ihrer Forschung konstruiert hatten und präsentieren diese Updates als weitere Indizien für die Solutréen-Hypothese. Erneut beschränken sich ihre Untersuchungen auf den Vergleich von prä-Clovis-Steinwerkzeugen und ihre ‚Solutré‘-Gegenstücke. Die Kritiker ihrer Idee blieben jedoch skeptisch. Michael J. O’Brien und seine Kollegen rezensierten das Buch und kritisierten sowohl den Mangel an Beweisen für eine realisierbare Route über den eiszeitlichen Atlantik als auch für die Anpassung der ‚Solutréer‘ an die maritime Umgebung (607). Bei genauerer Betrachtung der Radiokarbondatierungen der relevanten Fundorte schlussfolgerten sie sogar, dass – falls die ‚Solutré‘- und Clovis/prä-Clovis-Werkzeugtraditionen verbunden wären –  „sie zuerst in Nordamerika erschienen und danach nach Europa transferiert worden sein müssten“ (612). Diese Beobachtung führt die Solutréen-Hypothese ad absurdum. Während die Geschichte vom Steinzeit-Kolumbus für die Fantasie einiger Anhänger der Ideologie der Überlegenheit der weissen ‚Rasse‘ ein interessanter Vorschlag ist, hat seriöse Wissenschaft die Idee angesichts des Mangels an ernstzunehmenden Beweisen längst zurückgewiesen.

Abb. 3: Diese Karte wurde 2013 in einem Artikel des "Smithsonian Magazine" veröffentlicht und veranschaulicht neben den Hypothesen der Landbrücke und Küstenmigration auch die Solutréen-Hypothese als „alternative Theorie“ (Gugliotta). Ungeachtet des beeindruckenden visuellen Aspekts der Karte und der verbalen Gleichsetzung beider Theorien auf den Status von „Hypothesen“ ist die Karte in sich unschlüssig. Sie stellt Nord-Süd-Migrationen entlang der amerikanischen Westküste dar, ohne zu erklären, wie die Funde in Monte Verde (Chile) älter sein können als jene aus dem Norden. Außerdem wird hier das wissenschaftlich akzeptierte Datum der Monte Verde-Ausgrabungen auf 14.000 BP reduziert, obwohl Thomas Dillehay dortige Funde auf bis über 18.500 Jahre zurückdatiert hat (transpazifische Migrationen werden komplett ausgespart). Des Weiteren scheint die gepunktete Linie die Funde in Monte Verde an sich zu hinterfragen, möglichweise weil diese eines der stärksten Argumente gegen die Idee einer „Europe First“-Migration liefern.

Europas Rolle in Amerikas Vergangenheit

Wissenschaftliche Entdeckungen basieren auf dem Überprüfen innovativer Vermutungen, der Analyse empirischer Beweise und dem Hinterfragen existierender Theorien. Wie mehrfach in Stone Age Columbus erwähnt, könnte das empirisch unfundierte Anzweifeln der Erstbesiedlung Amerikas durch die Clovis-Kultur den Ruf eines Archäologen erheblich schädigen. Zu behaupten, dass Eiszeit-Europäer Amerika besiedelt hätten (lange bevor es die Idee eines ‚Europa‘ gab) könnte einen ähnlichen Effekt haben. In diesem Fall traf das allerdings nicht zu. Stanford ist weiterhin der Direktor des Paleoindian/Paleoecology Program an der Smithsonian Institution in Washington DC und Bradley arbeitete bis zu seiner Emeritierung an der University of Exeter und als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Smithsonian Institution. Ganz im Gegenteil, die Veröffentlichungen zur Solutréen-Hypothese zählen zu ihren erfolgreichsten.

Eine steile These wie diese benötigt gewiss überzeugender Beweise aus zahlreichen Quellen. Doch wie Meltzer betont stützen genetische Studien und andere Belege die Soltréen-Behauptung nicht (2009, 188). Stanford und Bradley präsentieren ihre Erzählung vom Eiszeit-Kolumbus fast ausschließlich auf der Basis von Ähnlichkeiten von Steinwerkzeugtechnologien. Ausgehend von der Annahme, dass die europäische Kultur und Technologie nicht-europäischen grundsätzlich überlegen sein muss, verwerfen sie die Möglichkeit einer parallelen und unabhängigen Erfindung ähnlicher Technologien und behaupten stattdessen, dass die ursprüngliche Erfindung aus Europa kam und über den Atlantik verbreitet wurde. Diese diffusionistische These verlegt den Anfang des mit Kolumbus beginnenden kolonialen Narrativs weiter in die Vergangenheit zurück, um so in Konkurrenz zur These von der ursprünglichen Besiedlung Amerikas aus Asien zu treten.

Wie bereits erwähnt sind Berichte von europäischen Entdeckungen Amerikas sehr beliebt. Die ‚heldenhaften‘ Taten der Wikinger und des Christoph Kolumbus werden in den U.S.A. jährlich am Leif-Erikson Day und am Columbus Day (einem Nationalfeiertag) gewürdigt. Unter den transatlantischen Reisen befinden sich auch viele pseudowissenschaftliche Vorschläge wie etwa Hans Giffhorns Geschichte über den Ursprung der Chachapoya und Folklore wie die Reise des walisischen Prinzen Madoc nach Amerika im Jahr 1170. All diese Berichte haben in unterschiedlichem Maße politische und gesellschaftliche Bedeutung. Sie verstärken das Bild, dass Amerika grundlegend europäisch ist.

Die Solutréen-Hypothese verlagert die europäischen Ansprüche auf Amerika bis in die Eiszeit zurück. Fälle wie die des Kennewick Man veranschaulichen, dass alle Versuche die Ursprünge der ersten Amerikaner mit Europa zu verknüpfen „in der angespannten post-NAGPRA Atmosphäre zwischen indianischen Völkern und Anthropologen unweigerlich politische Dimensionen mit Auswirkungen auf das wirkliche Leben annehmen, und auch den Bereich andauernder Konflikte über Landrechte in den U.S.A. und Kanada betreffen“ (Straus, Meltzer und Goebel, 523). Ironischerweise wird die Hypothese von Migrationen über die Beringbrücke, die Stanford und Bradley hinterfragen, auch von vielen indianischen Aktivisten zurückgewiesen, obwohl indigenen Ansprüchen politisch gesehen nichts ferner liegen sollte. Letztendlich wird so die kolonialistische Geschichte der Europäer (Angelsachsen, ‚Solutréer‘) erzählt, die ‚unbewohntes Land‘ betraten, wie die Puritaner und selbst einige ihrer Geschichtsschreiber aus dem 20. Jahrhundert (wie Perry Miller) behaupten. Es ist wenig überraschend, dass diese Behauptungen in Anbetracht des genannten Untertons für weiße Nationalisten und ‚White Supremacists‘ sehr ansprechend sind, unabhängig davon, was die Absichten der Autoren waren.

Unterdessen ist es wichtig sich vor Augen zu führen, dass die These einer transatlantischen Besiedlung vor rund 20.000 Jahre nie wissenschaftliche Standards erfüllt hat und kürzlich erneut durch genetische Studien widerlegt wurde.[2] Doch der Kampf um wissenschaftliche Fakten und Theorien geht weiter. Anfang 2018 kritisierte die Genetikerin Jennifer Raff die Canadian Broadcasting Corporation (CBC) für die Ausstrahlung der Episode “The Ice Bridge” aus der Serie The Nature of Things, die die Hypothese von Stanford und Bradley in epischer Breite präsentiert, ohne der Kritik daran und ihrer Verfügbarkeit für rassistische Diskurse ausreichend gerecht zu werden.

Stanford und Bradley stellen die politische Tragweite ihre Behauptung klar: „Der Einfluss dieser neuen Urgeschichte auf die indianischen Völker könnte schwerwiegend sein. Sie gehen in der Regel davon aus asiatischen Ursprungs zu sein und nach 1492 von Europäern unterworfen worden zu sein. Falls auch sie in Teilen Europäer wären, würde dies die Trennlinien unverzüglich auflösen“ (Werbetext von Stone Age Columbus). Diese Argumentation bedarf allerdings einer Erklärung: Indianer betrachten sich als ursprüngliche Amerikaner und nicht Asiaten, und sie sind tatsächlich teilweise mit Europäern verwandt, genauso wie jeder Mensch ‚teilweise‘ mit jedem anderen Menschen verwandt ist – selbst mit anderen Lebewesen, ja sogar Karotten – ob uns das zusagt oder nicht. Vor allem aber ändert die Solutréen-Hypothese nichts daran, dass die indigenen Bewohner Amerikas von den Europäern brutal unterworfen wurden. Und legitime Rechte einklagen.

Um das Rätsel der fernen Vergangenheit Amerikas zu lösen, bedarf es eines multidisziplinären (d.h. aus der Zusammenführung von Erkenntnissen aus Archäologie, Geschichte, Genetik, Linguistik, Geologie, etc.) Ansatzes und der selbstkritischen Betrachtung von Beweisen und Theorien. Die Debatte um die ‚Solutréen‘-Ursprünge alter amerikanischer Zivilisationen verdeutlicht, dass Wissen über die ferne Vergangenheit selten allein aus rein wissenschaftlichen Gründen angefochten wird, sondern auch ideologischer Infiltrierung aus älteren kolonialen Narrativen ausgesetzt ist. Dies bietet einen idealen Spielplatz für das Vorbringen ‚alternativer Fakten‘ und Fake-Science. Eine wissenschaftlich-humanistische Perspektive beansprucht allerdings, dass die Frage nach der Besiedlung Amerikas von allem historisch gewachsenen ethnozentrischen Ballast befreit wird.

 

LITERATURNACHWEISE

[1] Alle Übersetzungen von Stefan Krause.

[2] Siehe: Raghavan, M., et al. “Genomic Evidence for the Pleistocene and Recent Population History of Native Americans.” Science 349, 6250 (2015), science.sciencemag.org/content/349/6250/aab3884. Zugriff am 29. März 2018.

 

ZITIERTE LITERATUR

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---. “The Solutrean-Clovis Connection: Reply to Straus, Meltzer and Goebel.” Archaeology 38, 4 (2006): 704-714.

---. Across Atlantic Ice: The Origin of America’s Clovis Culture. Berkeley: University of California Press, 2012.

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Greenman, E. F. “The Upper Palaeolithic and the New World.” Current Anthropology 4, 1 (1963): 41–91.

Gugliotta, Guy. “When Did Humans Come to the Americas?” Smithsonian Magazine Feb 2013, www.smithsonianmag.com/science-nature/when-did-humans-come-to-the-americas-4209273/. Zugriff 29. März 2018.

Meltzer, David J. The Great Paleolithic War: How Science Forged an Understanding of America's Ice Age Past. Chicago: University of Chicago Press, 2015.

---. First Peoples in a New World: Colonizing Ice Age America. Berkeley: University of California Press, 2009.

Ice Age Columbus. Who Were the First Americans? Regie Nicolas Brown. Discovery Channel. 2005.

O'Brien, Michael J., et al. “On Thin Ice: Problems with Stanford and Bradley's Proposed Solutrean Colonisation of North America.” Antiquity 88, 340 (2014): 606–613.

Raff, Jennifer. “Rejecting the Solutrean Hypothesis: The First Peoples in the Americas were not from Europe.” The Guardian. 21 Feb. 2018, www.theguardian.com/science/2018/feb/21/rejecting-the-solutrean-hypothesis-the-first-peoples-in-the-americas-were-not-from-europe. Zugriff 29. März 2018.

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Straus, Lawrence G. “Solutrean Settlement of North America? A Review of Reality.” American Antiquity 65, 2 (2000): 219-226.                                                                                                                                      

Straus, Lawrence G., David J. Meltzer, und Ted Goebel. “Ice Age Atlantis? Exploring the Solutrean-Clovis 'Connection'.” World Archaeology 37, 4 (2005): 507-532.

Willey, Gordon R., and Jeremy A. Sabloff. A History of American Archaeology. 2nd ed. San Francisco: W.H. Freeman and Company, 1974.

 

ABBILDUNGSVERZEICHNIS

Abb. 1: Kelley, Patrick. 2009. Wikimedia Commons. Wikimedia Foundation. Web. 24. August 2017. <https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Arctic_ice.jpg>

Abb. 2: Louis Figuier [Public domain], via Wikimedia Commons. Wikimedia Foundation. Web. 22. September 2017. <https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Solutre.JPG>

Abb. 3: 5W Infographics. 2013. Smithsonian Magazine. 28. März 2018. <https://www.smithsonianmag.com/science-nature/when-did-humans-come-to-the-americas-4209273/>